Boualem Sansals Buch über „Maghreb“: Rückkehr in die Realität

Mit den Berbern durch Zeiten: Das Buch „Maghreb – eine kleine Weltgeschichte“ des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal ist beeindruckend.

Ihre Spuren sind nicht immer friedlich: Berber in Algerien, 1998. Bild: reuters

Der Mensch muss die Geschichte immer wieder neu schreiben, „gleich Sisyphus, der sich immerzu mit seinem Felsblock abmüht“, so beschreibt der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2011, sein Vorhaben mit dem Buch „Maghreb – eine kleine Weltgeschichte“.

Es ist in der Tat keine einfache Aufgabe, die der frankofone Schriftsteller sich da vorgenommen hat. Denn die Geschichte des Maghreb ist ebenso verwirrend wie verflochten. Und weil Sansal diese Tatsache bewusst ist, vermeidet der, 1948 in Theniet el-Had in Algerien geborene Autor jede Verherrlichung. Für ihn geht es nicht um das Verfassen einer monumentalen Historie des Maghreb, sondern darum, erlebte Geschichte zu erzählen.

Dabei tun sich Fragen auf: Was bedeutet „der Maghreb“ überhaupt? Wo fängt er an? Wo ist seine Grenze? Wer sind die Menschen, die auf seinem Territorium leben? Woher kamen sie, und wie haben sie sich später auf Länder und Königreiche verteilt? Heute verstehen wir unter dem Begriff Maghreb mindestens die drei nordafrikanischen Länder Tunesien, Algerien, Marokko. Aber ist das richtig so? Oder gehört Libyen auch dazu?

Wer bei der Lektüre des schmalen Bandes nach Antworten auf diese Fragen sucht, wird enttäuscht werden. Denn was Sansal viel mehr interessiert, ist die Suche nach der Identität: „Ohne Identität zu leben, ist kaum anders, wie als tollwütiger Hund zu sterben: erschöpft vom endlosen Versuch, den eigenen Schwanz zu erhaschen.“

Was ist meine Zukunft?

Und weil Identität nicht fassbar ist – „sie gehört der Zeit vor unserer Geburt an, der Zeit nach unserem Tod“, schreibt Sansal –, müssen wir uns Fragen nach unserer Vergangenheit stellen, Fragen, die stets aus der Gegenwart abgeleitet werden. „Derweil wir durch unser Leben wandern, wechseln Kontinente ihre Position, wechseln Zeitläufe ihren Kurs und ihre Geschwindigkeit, wechseln Länder ihre Namen und Völkerschaften, Völker ihre Sprachen und Religionen; keine Wahrheit lebt länger als die Menschen, die sie vertreten.“

Darum begibt sich Boualem Sansal auf den Weg. Er schlägt einen Bogen, der sich über vier Jahrtausende und Tausende von Meilen spannt, von den Quellen des Nils bis zu den Kanaren, immer auf der Spur der Berber, der Urbevölkerung des Maghreb. Zugleich ist er auf der Suche nach einer Neuorientierung für jene Region, in der der Arabische Frühling seine ersten Jasminblüten trieb, und in der heute mehr denn je Fragen im Raum stehen: Wer bin ich? Will ich mich nicht länger als Araber und Muslim definieren? Was ist meine Zukunft?

Boualem Sansal: „Maghreb – eine kleine Weltgeschichte“. Aus dem Französischen von Regina Keil- Sagawe, Berlin University Press 2012, 126 Seiten, 19,90 Euro.

Auf seiner Spurensuche hat Sansal sich an die Fersen jenes Volkes geheftet, das seit Urzeiten im Norden Afrikas beheimatet ist – zwischen Atlantischem Ozean und Rotem Meer, zwischen Mittelmeer und dem großen Sandmeer der Sahara. Eine Weltgegend, der man im Laufe der Jahrhunderte so mancherlei Namen gegeben hat: Mauretanien, Libyen, Numidien, Rom, Afrika, Mazghana, Frankreich, Großer Arabischer Maghreb.

Viele Namen, eine Region

Und mancherlei Namen wurden auch seiner Bevölkerung verliehen, mitunter sogar Vogelnamen, als wüsste niemand, woher diese kleine Welt stammte und welches ihr Volk war. Dabei hat nach Sansals Auffassung „dieses Volk, das in fortwährender Armut lebte, eine so reiche Geschichte gehabt, dass es auf eine königliche Zukunft pochen kann. Das Leben hat bisher anders entschieden; über die Sklavenrolle und die blutig unterdrückte Revolte ist dieses Volk bis heute nicht hinausgekommen.“

Wie es dazu kam, erfahren wir in dem Buch durch den Ich-Erzähler, einen Berber, der als Sprachrohr von Sansal agiert. Schicht für Schicht legt er uns den historischen Maghreb, das antike Numidien, das pharaonische Ägypten frei. An der Hand seines schwindelerregend gelehrten Essays, dem Sansal einen amüsanten Plauderton verleiht, wandern wir nicht nur durch die Geschichte, sondern erleben Geschichten hautnah.

Mal begleiten wir den Erzähler als Schreibgehilfen und Mumieneinbalsamierer im Amonstempel von Theben, ein anderes Mal als numidischen Schafhirten in Karthago oder als Küchenjungen im Palast des türkischen Beys von Citra zur Zeit des Franzoseneinfalls. Unter seinem staunenden, kommentierenden Blick zieht ein, um es mit Herder zu sagen, wahres „Gewirre von Szenen, Völkern, Zeitläufen“ am Leser vorbei, ein kosmopolitischer Reigen aus Wanderern und Legenden, von Invasoren, Händlern, Helden und Widerstandskämpfern, von Mystikern und Verfolgten, von Dichtern, Apologeten, Eiferern und Imamen, von Giganten, Korsaren und Wartenden, Sagenerzählern und Umbruchstiftern, bis wir schließlich im heutigen Algerien landen. „Rückkehr in die Wirklichkeit“, wie Sansal das nennt.

Man muss seine Geschichte von A bis Z kennen

Und die Lehre? Sansal spricht ganz offen aus, dass er, wenn er aus seiner Nostalgie auftauche, immer ein gewisses Unbehagen verspüre. Denn er ist der Meinung, dass seine Leute aus ihrer langen Geschichte, aus diesem ungeheuren Reichtum, der aus vielen Niederlagen und ebenso vielen Erfolgen besteht, aus der Einbindung in Entwicklungsprozesse rund ums Mittelmeer, ihr gemeinsames Meer, diesen in alle Himmelsrichtungen geknüpften Fäden, so wenig und nur oberflächlichen Nutzen gezogen haben.

Laut Sansal benehmen sich die Menschen vor dem historischen Fresko wie Kinder, werfen einen schrägen Blick darauf und haben gleich jedes Interesse verloren. „Dabei ist es eine wahre Tragödie, wenn man seine Geschichte nicht von Anfang bis Ende kennt“, so Sansal.

Das ist die Botschaft, die er dem Leser des Buches am Ende seiner Reise mitteilt. Man muss seine Geschichte von A bis Z kennen. Wobei die Geschichte, die Vergangenheit, von der Zukunft gespeist wird, „vergangene und kommende Geschichte sind miteinander verwoben, unentwirrbar, auf geheimnisvolle Weise, in geradezu inzestuöser Dialektik“. Das heißt, alles hängt von diesem flüchtigen, ungewissen Ergebnis ab, das wir Gegenwart nennen.

Aber was ist die Gegenwart für einen Sisyphus, der sich immerzu mit seinem Felsblock abmüht? Er fängt von neuem an. Und genau das tut Sansal in seinem schmalen Buch: Er rollt die Geschichte des Maghreb neu auf, fantasievoll und spannend.

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