Eine Tankstelle im Nirgendwo

JAZZ Der Ukrainer Serhij Zhadan schickt seinen Protagonisten in die abgelegene Donbass-Region und macht ihn zum Helden eines ländlichen Slackerromans

Der deutsche Titel dieses Romans (der im Original schlicht „Vorosilovgrad“ heißt) ist eine hübsch absurde, kleine Irreführung des Verbrauchers, die aber auf seltsame Art ins Schwarze trifft. Mit Jazz an sich hat dieses traumverlorene, selbstironische, unbestimmt in die Weite der Landschaften des Donbass zielende Buch des Ukrainers Serhij Zhadan rein gar nichts zu tun. Und dann wieder doch. Denn gerade diese Traumverlorenheit, dieses unentschiedene Wollen oder Nicht-Wollen, die kleinen erotischen Aufwallungen und die untergründig humoristische Basslinie dieser scheinbar frei mäandernden Erzählung transportieren ein Lebensgefühl, das, wollte man es in Musik übersetzen, etwas unbestreitbar Jazziges hat.

Und das bei einem Ich-Erzähler namens Hermann. Hermann ist ein junger städtischer Szenetyp, einer, der sorglos sein Geld mit irgendwas Unbestimmtem in irgendeiner Agentur verdient und das bis ans Ende seiner Tage so täte, würde nicht eines Tages sein Telefon klingeln und man ihm erzählen, sein Bruder sei verschwunden, und Hermann müsse kommen und sich um dessen Tankstelle kümmern. Die Tankstelle des Bruders liegt in der alten Heimat, in der fernen, gottverlassenen Donbassregion, der Hermann sich gänzlich entfremdet hat. Doch das ändert sich nach und nach.

Absurd und romantisch

Ohne dass sich ganz genau mitteilen würde, weshalb – natürlich deshalb, weil der absolut reflexionsresistente Ich-Erzähler es selbst nicht versteht –, bleibt Hermann auf der Tankstelle und in der Gegend hängen und wird abwechselnd verfolgt von diversen mafiösen Typen, die zum Teil von der Staatsmacht sind und mit seinem Bruder noch eine Rechnung offen haben, von mehreren attraktiven Frauen, die alle nur das Eine von Hermann wollen, und von sehr lebendigen Tagträumen, in denen längst verstorbene Freunde aus alten Zeiten wieder aufleben. Ein Roma-Clan nimmt ihn als Quasi-Familienmitglied auf, und ganz zum Ende erhält Hermann von einer seiner Geliebten tatsächlich ein zerlesenes Büchlein mit dem Titel „Die Erfindung des Jazz im Donbass“, dessen historisierender Inhalt über Seiten hinweg referiert wird.

Oh ja, er kann wahrhaft schreiben, der 1974 geborene Serhij Zhadan, der als der bedeutendste ukrainische Autor seiner Generation gilt. Was Zhadan atmosphärisch gelingt, macht ihm so schnell keiner nach. In diesem Roman paart sich das Absurde aufs Wundersamste mit dem Romantischen, das Humoristische mit dramatischen Elementen, und die Dialoge sind von hinreißend pointierter Nonchalance. Alles zusammen ergibt einen ausgesprochen originellen ländlichen Slacker-Roman mit phantasmagorischen Elementen.

Allerdings ist in diesem an Figuren reichen Buch die durchaus vorhandene Kausalkette der Szenenfolge nicht immer ohne Anstrengung nachzuvollziehen, was zur entspannten Grundatmosphäre seltsam konträr liegt. Der geistige Aufwand des Verstehen-Wollens und das Bedürfnis nach slackerhaftem Durchträumen der Lektüre, das der Roman hervorruft, stehen miteinander in einem unlösbaren Dauerkonflikt. Ein Zustand zwischen Entspanntheit und Erschöpfung kann nach einer gewissen Zeit der Lektüre eintreten und dazu führen, dass die Anstrengungen der bewussten Sprachaufnahme vorübergehend zu viel werden.

Deshalb eignet sich „Die Erfindung des Jazz im Donbass“ wunderbar als spätabendliche Bettlektüre. Am nächsten Abend, so kann man sich freuen, während die Augen schon zufallen, wird man genauso gern darin weiterlesen. Bis die Entspannung auch dann wieder überhand nimmt.

KATHARINA GRANZIN

Serhij Zhadan: „Die Erfindung des Jazz im Donbass“. A. d. Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 394 S., 21,95 Euro