Angst lähmt

POLITISCHES THEATER Eine Podiumsdiskussion in Köln mit dem kasachischen Regisseur Bolat Atabayev

Keine Kunstgattung drängt so sehr auf ihre politische Relevanz wie das Theater. Mitunter bis zur Vernachlässigung des eigenen ästhetischen Anspruchs. Doch welchen Einfluss hat das Theater wirklich? Welche Rolle spielt dabei das jeweilige politische System? Muss sich die künstlerische der politischen Aussage unterwerfen? Ein Diskussionsabend mit dem kasachische Theaterregisseur Bolat Atabayev und deutschen Theatermachern in Köln stellte Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen der Politik im Theater.

Bolat Atabayev stellte sich als überzeugten Verfechter eines aufklärerischen Theaters vor und verortete sich in der Tradition von Schiller und Brecht. Der 60-Jährige war 2012 nach der Parteinahme für streikende Ölarbeiter im Schanaosen verhaftet worden und kam nur aufgrund internationalen Drucks nach 20 Tagen wieder frei. Vor dem Streik hatte er das Stück „Die Lawine“ inszeniert, eine Parabel über ein kleines Dorf, in dem neun Monate geschwiegen werden muss, weil andernfalls die Bewohner unter Schneemassen verschüttet würden. Atabayev berichtete, dass er vor der Inszenierung des regimekritischen Stücks gewarnt worden sei, die Zensur aber nicht eingegriffen habe. Die Erschießung von Streikenden durch die Sicherheitskräfte habe die Inszenierung dann völlig verändert: „Die Zuschauer haben geweint“, so Atabayev. Nichtsdestotrotz wurde über die politische Bedeutung der Parabel kein Wort verloren. „Angst lähmt“, sagte er zur Begründung.

Kritisches Lob

Atabayevs anschließendes kritisches Lob für die deutsche Zivilgesellschaft hatte allerdings einen Widerhaken. Es beinhaltet die Frage nach der abnehmenden politischen Relevanz des Theaters in der Demokratie. Moderatorin Dorothea Marcus brachte damit die sich zunehmend tagesaktuellen Themen widmende Kölner freie Szene ins Spiel. So hat der junge Regisseur Janosch Roloff zuletzt Stücke über den Asylbewerber Oury Jalloh und den Verfassungsschutz realisiert. Beide angeregt durch aktuelle Vorfälle. Sein Stück „V wie Verfassungsschutz“, so Roloff lachend, sei allerdings auf völlige Ignoranz des Geheimdienstes gestoßen. Inken Kautter, Leiterin des Kölner Freien Werkstatt Theaters, brach eine Lanze für das Dokumentartheater: „Die Auseinandersetzung mit Inhalten ist ein wichtiger Teil des politischen Theaters“, sagte sie. Kautter beschwor die gesellschaftsverändernde Kraft von Dokumentarstücken – auch wenn sie ihre Reichweite in puncto Zuschauer eher gering einstuft.

Es ist wahrscheinlich kein größerer Kontrast denkbar als der zwischen deutschen Dokustücken und Atabayevs Inszenierung von „Die Lawine“, die gerade in Köln gastierte. Eine Arbeit, die jedes Pathos vermeidet und geschickt zwischen formalem Zugriff, Psychologie und Groteske variiert. Im Gegensatz dazu stranden aktuelle Dokumentartheaterformen allzu häufig im Info-Overkill eines ästhetisierten Wikipedia-Artikels. Hier setzte die Kritik von Sven Schlötke an, der Mitglied im Leitungsteam des Theaters an der Ruhr in Mülheim ist. „Ich halte das nicht mehr für politisches Theater“, sagt er zum aktuellen Dokumentartheaterboom. Angesichts der ins Innerste des Menschen eingreifenden gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen plädierte er für ästhetische Formen, die neue Bereiche der Erfahrung im Zuschauer aktivieren. Und das gelte auch für die Organisation des Theaters selbst, das als „Modell“ dienen müsse. Dem wollte Marco Berger von der Kölner Orangerie, in der die Diskussion stattfand, zwar nicht widersprechen, er warnte aber davor, vor allem in der freien Szene „Geld und Rahmenbedingungen“ zur Vorbedingung eines engagierten Theaters zu machen.

Eine eigene Stiftung

Bolat Atabayev hat inzwischen Unterschlupf an der Kölner Theaterakademie, einer privaten Schauspielschule, gefunden. Er wird dort als Dozent und Regisseur arbeiten und bereitet bereits ein Stück über den Ölarbeiterstreik vor. Robert Christott, der Leiter der Theaterakademie, erhofft sich dadurch, wie er bekannte, auch ein geschärftes politisches Bewusstsein bei den Schauspielschülern. Am Ende gab Bolat Atabayev bekannt, dass er eine eigene Stiftung gegründet habe, die Projekte von NGOs in Kasachstan und in Deutschland unterstützen und auf die indifferente Haltung der europäischen politische Institutionen gegenüber dem kasachischen Diktator Nursultan Nasarbajew einwirken soll. Auch das politische Theater braucht schließlich ökonomisch tragfähige Strukturen. CHRISTOPH ZIMMERMANN