Ágnes Heller wird bedroht: „Juden raus“ in Budapest

Die Philosophin und Holocaust-Überlebende Ágnes Heller wird in Ungarns Hauptstadt von faschistischen Studenten bedroht und diffamiert. Ein Besuch.

Im Gleichschritt: Demonstration der Jobbik-Partei in Ungarn 2012. Bild: dpa

Juden, die Universität gehört uns, nicht euch“ – Aufkleber mit diesem Slogan fanden sich Mitte März auf den Namensschildern der Büros mehrerer Professoren der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest. Zynisch gezeichnet war die von völkischer Aggression triefende Attacke mit „Grüßen von den ungarischen Studierenden“. Eine der Betroffenen ist die emeritierte Philosophieprofessorin Ágnes Heller, die mit ihren 83 Jahren nur mehr gelegentlich ihre Kollegen besuchen kommt.

Ágnes Heller ist nicht irgendwer: die Holocaust-Überlebende und international renommierte Philosophin lehrte jahrelang am Hannah Arendt Center der New School for Social Research in New York, sie kann auf eine lange Liste von Publikationen in mehreren Sprachen verweisen und wurde mit einer stattlichen Anzahl von internationalen Auszeichnungen überhäuft.

Das Appartement, das Heller in Budapest bewohnt, gewährt einen großzügigen Blick über die Donau und die Petöfibrücke. Sie entschuldigt sich für die „unaufgeräumte Wohnung“, weil ein paar Bücher auf dem Couchtisch liegen. Ungebetene Besucher werden von einem Portier aufgehalten. Sie habe keine Ahnung, wer hinter der Aktion stecken könnte: „Die Identifikation dieser faschistischen Studenten ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Studenten selbst gegen diese faschistischen Studenten demonstrieren.“ Einer habe in einem Brief an die Tageszeitung Népszabadság geschrieben, er wisse, wer diese Leute seien.

Vonseiten der Unileitung sei die Reaktion hingegen lau gewesen, klagt Heller. Der stellvertretende Unidirektor György Fábri äußerte sich zumindest persönlich verstört: „Das, was hier geschehen ist, dreht jedem normal Denkenden und Fühlenden – sei es Dozent oder Hörer – den Magen um. Es ist unverständlich, und kann nur aufs Schärfste zurückgewiesen werden.“

„Hässlicher Judenkopf“

Aus welcher Ecke die antisemitische Kampagne kommt, ist unschwer zu erraten. Die rechtsextreme Studentenselbstverwaltung HÖK, die der faschistischen Jobbik-Partei nahe steht, ist schon dadurch aufgefallen, dass sie Listen von Studierenden angelegt hat, auf denen der eine oder andere schon mal als „hässlicher Judenkopf“ oder „Scheißliberaler“ gebrandmarkt wird. Die HÖK ist zwar inzwischen verboten worden, doch ihr Gedankengut scheint weiter in den Köpfen der Studierenden herumzugeistern. Das legt eine Umfrage nahe, wonach die rechtsextreme Jobbik an den Unis zur beliebtesten Partei geworden sei. Jeder dritte ungarische Student will sie das nächste Mal wählen. Etwa ebenso viele würden laut derselben Umfrage eine Diktatur der Demokratie vorziehen.

Nicht zum ersten Mal sieht sich Ágnes Heller im Zentrum von Anfeindungen. Nach dem Aufstand gegen das kommunistische Regime 1956 war sie im Gefängnis und musste unter demütigenden Umständen Selbstkritik üben, um einer möglichen Hinrichtung zu entgehen. Dann verbrachte sie lange Jahre in Australien und den USA. Politisch will sich die ehemalige Marxistin heute nicht einordnen lassen. Doch sympathisiert sie eher mit der Sozialdemokratie und liberalem Gedankengut als mit den regierenden Rechtsnationalisten. Die reagieren auf Kritik höchst empfindlich und schrecken auch vor Rufmord nicht zurück.

Vor zwei Jahren waren Ágnes Heller und einige als liberal bekannte Kollegen von Gyula Budai, dem „Regierungskommissar für die Abrechnung mit den Vergehen der Vorgängerregierung“, angezeigt worden – sie hätten Forschungsgelder veruntreut. Es ging um fünf vom Staat geförderte Projekte, von denen Heller eines geleitet hatte, nämlich die Übersetzung deutscher Philosophen wie Heidegger, Husserl und Nietzsche ins Ungarische. Nach mehrmonatigen Nachforschungen musste die Polizei die Ermittlungen einstellen, da sie nicht den geringsten Hinweis auf unsaubere Abrechnungen fand.

„Wer sich nicht mit unserer Politik identifiziert, ist kein echter Ungar, der ist ein Verräter“, sagt die Philosophin Ágnes Heller. Bild: dpa

„Wenn man keinen einzigen Pfennig annimmt, dann ist es sehr schwer nachzuweisen, dass man Staatsgeld geraubt hat“, sagt Ágnes Heller sarkastisch. Andere Kollegen hätten zwar aus dem Projekt Geld bezogen, „das war aber die adäquate Bezahlung für ihre Arbeit“. Die Kampagne hatte zwar keine explizit antisemitische Stoßrichtung, doch da mehrere der inkriminierten Professoren Juden waren, glaubt Heller nicht an Zufälle.

Hetzerische Graffiti

Sie selbst wird von den rechten Medien immer wieder diffamiert. So tauchte kürzlich in der regierungsnahen Zeitung Magyar Hírlap ein Brief auf, den Heller 1959 an die Kommunistische Partei geschrieben haben soll. Darin verurteilt sie den Aufstand von 1956 als Konterrevolution und bittet, wieder an der Universität arbeiten zu dürfen. Das sei gelogen, versichert sie. Und die Selbstkritik habe sie unter Druck geübt.

Seit Fidesz regiert, häufen sich hetzerische Graffiti, und bei Fußballmatches sind regelmäßig antisemitische Sprechchöre zu vernehmen. Das gab es zwar selbst in der kommunistischen Zeit. „Aber anders als damals schreitet die Polizei nicht mehr ein“, sagt Gábor Deák, Gründer des ungarisch-jüdischen Kulturvereins Mazsike. Es sei offensichtlich, dass Orbán mit der Wählerschaft von Jobbik kokettiere. Und für die Rechten ist die mit über 100.000 Mitgliedern größte jüdische Gemeinde Zentraleuropas immer noch ein Feindbild.

Im vergangenen November sorgte der Jobbik-Abgeordnete Márton Gyöngyösi für Empörung, als er im Parlament forderte, alle in Ungarn lebenden Juden sollten zwecks Überwachung möglicher staatsfeindlicher Aktivitäten registriert werden. Zwar schwächte er später ab, er habe nur israelisch-ungarische Doppelstaatsbürger gemeint, doch fühlte sich selbst Antal Rogán, der Fraktionschef der regierenden Fidesz, bemüßigt, das Ansinnen zurückzuweisen. Premier Viktor Orbán selbst distanziert sich regelmäßig von antisemitischen Äußerungen in seinem Umfeld, doch unterlässt er es, energisch durchzugreifen. Und die Anzahl von rabiaten Antisemiten, die während seiner Regierung zu Amt und Ehren gekommen sind, spricht für sich.

Am Nationalfeiertag, der am 15. März an den Aufstand von 1848 gegen die Herrschaft der Habsburger erinnert, wird traditionell der Tancsics-Preis, die höchste staatliche Ehrung für Journalisten, überreicht. Diesmal fand sich unter den Ausgezeichneten der Fernsehjournalist Ferenc Szaniszló, der für seine über das Fidesz-nahe Echo-TV verbreiteten krausen Verschwörungstheorien ebenso wie für seinen kruden Antisemitismus bekannt ist. Die Anschläge vom 11. September 2001 sind für ihn das Werk des Weltjudentums, und die Roma sieht er als „Menschenaffen“. Ein Sturm der Entrüstung war die Folge, zehn ehemalige Tancsics-Preisträger gaben ihre Auszeichnung zurück.

Von den Ausfällen nichts gewusst

Der zuständige Minister für Humanressourcen, Zoltán Balog, bedauerte daraufhin die Entscheidung als Irrtum. Er habe von den antisemitischen Ausfällen des Geehrten nichts gewusst. Er bekniete Szaniszló, er möge seinen Preis zurückgeben. Was dieser auch tat: unter Protest und mit dem Hinweis, er werde die Wahrheit weiter verkünden, auch wenn „Israel und die USA“ sich diesmal durchgesetzt hätten.

Keinen Rückzieher machte die Regierung bei den gleichzeitig verliehenen Verdienstorden für den Archäologen Kornél Bakay, der die Juden für den Sklavenhandel im Mittelalter verantwortlich macht, und Petrás János, den Leadsänger der Rockband Kárpátia, die durch ihre chauvinistischen Texte zur Hausband der faschistischen Jobbik geworden ist und den Marsch für deren paramilitärische Ungarische Garde schrieb.

Diese Ambivalenz der Regierung dürfte System haben. Als der emeritierte Oberrabbiner József Schweitzer vergangenen Juni auf offener Straße von einem Unbekannten angepöbelt und mit antisemitischen Parolen beschimpft wurde, stattete Staatspräsident János Áder dem 90-Jährigen einen Solidaritätsbesuch ab. Der Journalist Sándor Révész gibt sich in einem Kommentar in der Tageszeitung Népszabadság nicht zufrieden: „Jede Geste zählt so viel, wie man dafür riskiert.“ Sich mit einem 90-jährigen Professor zu solidarisieren, koste nichts. So verhalte es sich mit allen Gesten der Regierung: „Sie kosten nichts“.

Schlimmer als völkisch

Was Gábor Deák besonders bedenklich findet, ist die Passivität der Bevölkerungsmehrheit. Die meisten Medien befassten sich kaum mit solchen Problemen und die Jugend sei politisch unwissend. Vor allem unpolitische Menschen lassen sich vom völkischen Diskurs anstecken, der jede Kritik als Angriff auf das „wahre Ungarntum“ abwehrt. Die weltgewandte Ágnes Heller hat dafür kein Verständnis.

Sie ist oft in Wien und Spanien, immer wieder in Deutschland und den USA. Wenn sie auf den chauvinistischen Diskurs der ungarischen Regierung zu sprechen kommt, wird sie ungehalten. Der sei schlimmer als völkisch, urteilt sie. Sie spricht von „fundamentalistisch-nationalistischer“ Politik: „Wer sich nicht mit unserer Politik identifiziert, ist kein echter Ungar, der ist ein Verräter.“ Deswegen wohl sind sie und andere liberale Geister auch zu solchen Hassobjekten geworden.

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