CHARLOTTENBURG ALS KOMPROMISS ZWISCHEN BERLIN UND WESTDEUTSCHLAND
: Weit weg von Mitte

VON DIRK KNIPPHALS

Keineswegs alle Geschichten, die mit einem „eigentlich“ anfangen, sind interessant. Diese schon, finde ich.

Eigentlich nämlich hatte N. nach Westdeutschland ziehen wollen. Berlin als Lebensgefühl, das wollte sie nicht mehr (kann man ja auch gut verstehen). Zuletzt hatte es sie nach Prenzlauer Berg verschlagen, und das passte sowieso nicht. Wenn es etwas ganz Normales ist, Autorin zu sein, wenn alle in der Umgebung Autoren sind, dann stimmt etwas nicht, sagt sie. Dann sei es unmöglich, Abstand zu haben, Beobachterin zu sein. Es sei denn, man beobachtet sich gegenseitig. Irgendetwas an der eigenen Autorenexistenz sei dann aber unwirklich.

Also. In Hamburg hat N. dann auch schon nach Wohnungen gesucht – und feststellen müssen, dass vergleichbarer Wohnraum in Hamburg viel teurer ist als in Berlin und sowieso auch schwer zu kriegen. Gelandet ist sie dann in Charlottenburg, in der Nähe vom Adenauerplatz. Jetzt kommt die Pointe der Geschichte: Charlottenburg, sagt N., ist ein guter Kompromiss zwischen Berlin und Westdeutschland.

Über Charlottenburg, tiefster Berliner Westen, sagt die Geschichte viel. N. hat sie neulich schon mal erzählt, als im LCB der 70. Geburtstag von F. C. Delius gefeiert wurde (der auch in Charlottenburg wohnt). Nun erzählt sie sie wieder, während wir am Stuttgarter Platz sitzen. Um 360 Grad hat sich das mit Charlottenburg in den vergangenen 40, 50 Jahren gedreht. Um 68 herum konnte man sich hier als gesellschaftliche Avantgarde fühlen. Die WGs, das alternative Leben – wurde alles hier erfunden.

Äh, apropos, wo war hier am Stutti noch mal genau die Kommune 1? N., Anfang dreißig, für die die heroische Aufstandszeit so weit weg ist wie die erste Mondlandung (ist sie ja auch, objektiv gesehen), weiß es nicht. Ich wusste es mal, habe es aber, ehrlich gesagt, inzwischen schon wieder vergessen.

Jedenfalls: Und knapp ein halbes Jahrhundert später kann man sich, wenn man hier mit Anfang dreißig hinzieht, eben wieder als Speerspitze fühlen. Wobei N. sich Sorgen macht, jetzt tatsächlich als Pionierin zu fungieren. Noch niemals, sagt sie, hat sie hier jemand, den sie aus Kreativkontexten kennt, auf der Straße getroffen. Und am liebsten wäre es ihr, wenn das auch so bliebe. Charlottenburg soll so weit weg von Mitte wie Westdeutschland bleiben. Als Trendsetterin einer Neuentdeckung möchte sie, wenn es nach ihr geht, nicht funktionieren.

Was die Geschichte auch zeigt: wie groß Berlin wirklich ist. Man braucht nur ein paar Kilometer von Mitte oder Kreuzberg wegzuziehen und ist in einem ganz anderen Kosmos gelandet.

Und wie ist es in diesem Kosmos so? Unterschiedlich, sagt N. Die Wilmersdorfer Straße erinnere sie an Hannover. Das sei der Inbegriff des Normalen. Am Adenauerplatz dagegen würden Fixer und Porsche-Fahrer aufeinanderprallen. Die Junkies seien speziell. Sehr fertig. Fertiger als am Kotti. Und die Porsche-Fahrer seien auch speziell. Halt Ku’damm-Nähe. Und mit den Büroangestellten trifft man sich dann mittags schnell an der Currywurstbude. Hier am Stuttgarter Platz aber ist Grünen-Gegend. Festangestellte wohnen hier, das ganze Setting resistent gegen Hypeanfälle.

Und während N. erzählt, denkt man: Genau das hat etwas Großstädtisches. Kulturelle Codes, die sich eben nicht in eine gemeinsame Geschichte finden. Und die man selbst auch gar nicht teilt, während man in ihnen lebt. Außer Charlottenburg mag N. noch Rom und Boston.