Regionales vom Feinsten

GESCHICHTE Im niedersächsischen Geversdorf wurde das ehemalige Rathaus in ein Heimatmuseum umgewandelt. Aber die Gemeinde muss sparen und darum könnte hier bald Schluss sein

Eine Gemeinde aus der DDR wollte Kontakt mit Geversdorf aufnehmen, um den Weltfrieden zu retten

VON FRANK KEIL

Günter Lunden ist hier getraut worden, 1967 war das. 46 Jahre später geht er im damaligen Standesamt der Gemeinde Geversdorf ein und aus, findet ohne hinzuschauen in dem verwinkelten Gebäude jeden Lichtschalter. Denn seit das Rathaus der Gemeinde im Landkreis Cuxhaven am 1. Januar geschlossen wurde, beherbergt das Gebäude nun nur noch das Heimatmuseum – und Lunden leitet das Museum.

Geversdorf ist ein typisches, lang gezogenes Straßendorf im Kehdinger Land, hinter dem Deich fließt die Oste Richtung Elbe. Dass es im Dorf ein Heimatmuseum gibt, ist dem Sammelwillen des langjährigen Gemeindedirektors Heinz Behrens zu verdanken. Er ließ nichts liegen, sammelte und hortete, bis er nicht mehr wusste, wohin mit all den Exponaten.

Als Geversdorf Anfang der 1970er Jahre der Samtgemeinde Am Dobrock beitrat und das Rathaus Außenstelle wurde, zogen immer mehr Abteilungen aus und Räume wurden frei für Berehns Exponate. Mit den Jahren schlossen sich immer mehr Geversdorfer zu einer Art Museumskreis zusammen, bis sich schließlich 2011 der Geversdorfer Kultur und Heimatverein gründete – mit Günter Lunden als Vorsitzendem.

95 Mitglieder zählt der Museumsverein mittlerweile. Und in den vergangenen Jahren haben sie das Haus in Eigenregie renoviert, auch um weiteren Platz zu schaffen – schließlich kommen jedes Jahr 100 bis 150 Exponate, vom alten Buch über einen Stapel Feldpostkarten bis hin zum kompletten Webstuhl, dazu.

Doch dem Museum könnten unruhige Zeiten ins Haus stehen, denn die Gemeinde Geversdorf, die bisher die laufenden Kosten des Hauses übernommen hatte, ist wie die allermeisten Nachbargemeinden so gut wie pleite. Es herrscht Haushaltssperre. Jede Ausgabe der Gemeinde muss von der übergeordneten Kreisverwaltung in Cuxhaven genehmigt werden. Um sich von dieser Last zu befreien, hat Geversdorf nun den Antrag auf Aufnahme in den Zukunftsvertrag mit dem Land Niedersachsen unterschrieben, der die Möglichkeit eines einmaligen Schuldenschnittes bietet: Alle bis 2009 aufgelaufenen Schulden würden dann zu 75 Prozent getilgt werden. „Bleiben die fehlenden 25 Prozent und alles, was seit 2009 an weiteren Schulden aufgelaufen ist“, sagt Lunden. Aber Geversdorf wird wie alle anderen Gegenleistungen bringen müssen. Und da der Unterhalt des Museums als „freiwillige“ Leistung definiert ist, könnte man genau hier ansetzen. „Da werden wir hart verhandeln müssen, dass es uns nicht trifft“, sagt Lunden. Schließlich berge das Haus wahre Schätze.

Anja Hellwege, Mitarbeiterin des Museumsvereins, übernimmt die Führung durch das Museum. „Das Haus, 1883 erbaut, war das letzte Armenhaus der Gemeinde“, sagt Hellwege. Die Gemeinden seien damals verpflichtet gewesen, sich der Waisenkinder anzunehmen sowie der Kinder, um die sich niemand kümmerte. Das erklärt auch die Lage des Hauses am Ortsausgang, daneben folgt nur noch der Friedhof. Hellwege wühlt in einem Regal, holt einen verblichenen Hefter hervor, schlägt ihn auf, blättert und hält das in Sütterlin gehaltene Bewerbungsschreiben eines der Armenväter in der Hand – 1916, offenbar von der Front geschrieben: Er wisse ja nicht, wie lange das mit diesem Krieg noch ginge, aber er hätte großes Interesse an der Stelle, so sie denn noch frei wäre. „Fast 100 Jahre vorher, um 1820, die Franzosen waren schon wieder abgezogen, wurden die Kinder, die in Not waren, verauktioniert“, erzählt Hellwege. „Je weniger einer für die Versorgung eines Kindes von Seiten der Gemeinde haben wollte, desto eher bekam er es.“ Besonders hätten sich die Bauern damals für Jungen im Alter ab zwölf, 13 Jahren interessiert, die sie dann aufs Feld schickten, statt wie vereinbart in die Schule. Verschiedene Kategorien habe es gegeben: Kinder mit Kleidung und ohne; mit Schulbüchern und ohne; Kinder mit Bibel und ohne – alles schriftlich festgehalten und jetzt hier im Museum nachzulesen.

Und weiter führt Anja Hellwege durch die Räume im Erdgeschoss, es geht in den ersten Stock, es geht unters Dach, wo es vieles zu sehen gibt, was zu einem zünftigen Heimatmuseum gehört: landwirtschaftliche Geräte wie Spaten und Eimer, Haushaltsgegenstände aller Arten wie Radiogeräte vom sogenannten Volksempfänger bis zum Grundig-Monstrum. Dass es in Geversdorf in den Jahrzehnten des Walfangs eine Trankocherei gab, erfährt der Besucher ebenso wie er in die Geschichte der Geversdorfer Oste-Fähre eingeführt wird, die erst per Pferd gezogen, dann motorisiert und schließlich vor 25 Jahren von einer Brücke abgelöst wurde.

Die Geschichte des örtlichen Schützenvereins, der sich inmitten des Dreißigjährigen Krieges als eine Art Bürgerwehr gründete, wird erzählt; vieles findet sich auch über die diversen Ziegeleien, die nach dem Hamburger Brand von 1842 einen wahren Boom erlebten. Hier ist also Regionalgeschichte vom Feinsten zu entdecken, die darauf wartet, systematisch erforscht zu werden. „Natürlich muss man sich ein bisschen beschnuppern, wenn man sich noch nicht kennt“, sagt Hellwege. „Aber wenn sich mal jemand einmieten und etwas erforschen will, also unsere Türen stehen offen.“

Herzstück der Sammlung sind die komplett vorhandenen Gemeindeunterlagen. „Ganz früher musste man etwa bei der Gemeinde um Erlaubnis bitten, ob die Frau oder der Mann, den man heiraten wollte, überhaupt zu einem ziehen durfte“, sagt Hellwege. Erfahrbar ist auch, wie die Behörden Wohnraum akquirierten, als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges jede Menge Flüchtlinge auch im Kehdinger Land unterkommen mussten und keineswegs freiwillig aufgenommen wurden. Und neulich, da entdeckte Hellwege durch Zufall Briefe von einer Gemeinde aus der DDR, die Kontakt mit einer westdeutschen Gemeinde aufnehmen wollte, um den Weltfrieden zu retten. „Vielleicht war es nur Propaganda, aber vielleicht war es ja auch ernst gemeint, das müsste man jetzt mal erforschen“, sagt sie.

Ihre Arbeit fürs Museum wird über das EU-Programm „Bürger in Arbeit“ finanziert: 30 Stunden pro Woche für 900 Euro im Monat. Und das für drei Jahre – 2014 endet ihr Job.

Tag der offenen Tür im Heimatmuseum Geversdorf: 12. Mai, ab 10 Uhr