Andere Leute leben ja auch

PORTRÄTFILM In einer Dokumentation erzählt die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ruth Klüger von ihrem Weiterleben nach dem Holocaust

Ruth Klüger steht auf dem Gelände des ehemaligen KZ Bergen-Belsen. Sie wurde nicht dorthin verschleppt. Sie hatte „Glück“. Auf dem Todesmarsch, der sie aus dem KZ Groß-Rosen dorthin bringen sollte, konnte sie, gerade einmal 13 Jahre alt, mit ihrer Mutter fliehen.

Nun besucht sie das KZ. Zum ersten Mal. Sie, die dort hätte sterben sollen und nicht gestorben ist. „Einerseits hat man’s nicht verdient, andererseits, warum soll man’s nicht verdient haben, andere Leute leben ja auch“, sagt die Literaturwissenschaftlerin und Autorin im Film „Das Weiterleben der Ruth Klüger“ von 2011, der erst jetzt in die Kinos kommt. Für diesen Film hat die seit 1947 in den USA lebende Ruth Klüger die Reise auf sich genommen und mit der Regisseurin Renata Schmidtkunz auch andere Orte aufgesucht: Jerusalem, Göttingen und Wien.

„Wien, das ist ein sehr ambivalenter Ort“, sagt Ruth Klüger. So wie vieles ambivalent bleibt in diesem Film. Klüger kann sich sehr wohl entscheiden, sie ist äußerst entschieden, gerade daher kann sie das, was sie gesehen und erlebt hat, nicht eindeutig fassen. Für sie ist der Holocaust etwas Sagbares, etwas Beschreibbares. Daher hat sie es auch gewagt, in ihrer weltberühmten Autobiografie „weiter leben“, die sie 1992 veröffentlichte, ihre Jugend im judenfeindlichen Wien und ihre Erfahrungen in den Vernichtungslagern zu beschreiben. In dem 2008 folgenden zweiten Erinnerungsband, „unterwegs verloren“, zeigte sie dann schonungslos, dass Überleben nicht alles ist.

Das zeigen auch die Interviews mit ihren beiden Söhnen, die das geworden sind, was Klüger nicht werden konnte: Amerikaner. Ruth Klüger musste immer zwischen den Orten bleiben, war nie ganz in den USA und auch nie ganz in Göttingen (ihrem zweiten Wohnsitz), denn dort, wo sie hingehörte, hatte sie nicht bleiben dürfen. Der jüngere Sohn erkennt im Film, dass sie nach Wien gehört und dort nicht bleiben kann. Und dass er das nie ganz verstehen wird.

Renata Schmidtkunz rückt dem Objekt ihres Films, auf das sie Ruth Klüger manchmal allzu arg reduziert, unverschämt dicht auf die Pelle. So sieht man Klüger etwa frühmorgens im Morgenmantel in die Küche kommen, um Kaffee zu trinken, und die Kamera ist da, rein zufällig. Auch versucht Schmidtkunz einen Fahrradunfall, den Klüger 1988 in Göttingen knapp überlebte, filmisch nachzustellen, indem sie die Kamera wild schwenkt – sehr unschöne Appelle an Affekte, die der Film nicht nötig hätte und die der Persönlichkeit Klügers nicht gerecht werden.

Denn man hört Ruth Klüger, die schon vor 1968 bekennende Feministin war, nicht nur sehr schnell ein gepflegtes Englisch oder ein ebenso gepflegtes, wienerisch gefärbtes Deutsch sprechen, nein, man sieht auch, wie schnell sie, die sich einmal ganz unkokett einen „Trottel“ heißt, denkt. Man sieht eine Intellektuelle bei der Arbeit. Etwa in der Gedenkstätte Bergen-Belsen, in der sie auf der offiziellen Gedenktafel noch Kitsch entdeckt, der „einen Sinn in den Unsinn“ legen will.

Das macht diesen Film ungemein eindringlich. Dieser Denkerin zuzusehen ist – bei allem Ernst – ein großes Vergnügen.

JÖRG SUNDERMEIER

■ „Das Weiterleben der Ruth Klüger“ im fsk, am Freitag, 18 Uhr, mit Regisseurin R. Schmidtkunz zu Gast