Vortäuschung falscher Tatsachen

VIRTUOSITÄT Alles beginnt wie in Hitchcock-Manier, dann wird’s seltsam: In seinem Bluebox-Roman „Melodram“ löst Thomas Jonigk das Erzählen in Einzelsequenzen auf

Über das sogenannte Bluebox-Verfahren heißt es einmal, dass dabei „die Realität des Betrachters nicht der des Darstellers entspricht bzw. mit dieser nicht vereinbar ist“; es gehe um „Täuschung und Verführung, und die basiert nun mal auf der Vortäuschung falscher Tatsachen“. Im Sinne dieser Definition ist Thomas Jonigks neuer Roman, sein zweiter nach „Vierzig Tage“, ein expliziter Bluebox-Roman: Jonigk hat sich nicht nur die filmische Technik zu eigen gemacht, er hat auch dem Milieu gleich sein Personal entnommen.

Man könnte versuchen, den Plot von „Melodram“ nachzuerzählen und schnell bemerken, dass das Erzählen bei Jonigk sich in Einzelsequenzen und -motive auflöst, die ineinandergespiegelt werden, bis die Wirklichkeitsebenen ununterscheidbar geworden sind. Alles beginnt wie ein psychologisch unterfütterter Kriminalfilm in bester Hitchcock-Manier: Karin Hoffmann ist Schauspielerin, einstmals berühmt, eine Frau, deren Karriere ihren Zenit überschritten hat. Karin erhält anonyme Briefe, in denen sie ihren eigenen Tagesablauf, jede Bewegung, jede Handlung, minutiös beschrieben wiederfindet. Es kommt ihr der Verdacht, die Briefe könnten von ihrem Ehemann, dem Filmregisseur Wolfgang Hoffmann, stammen. Ein Privatdetektiv, den Karins Tochter Karla, ebenfalls Schauspielerin, anheuert, stellt allerdings fest, dass niemand Briefe in den Briefkasten wirft. Der vermeintliche Fall bleibt letztendlich ungelöst.

„Melodram“ ist ein Roman der Möglichkeitsformen, der Kontingenz. Im Kontrast dazu allerdings ist Jonigks Stil klar, gestochen, geradezu kalt. Aus dieser Dichotomie ergeben sich immer wieder reizvolle und überraschende Momente. Überhaupt ist es Jonigk hoch anzurechnen, dass er die technische Virtuosität, die hinter seinen zum Teil wilden Kamerafahrten steckt, nicht ausstellt, sondern wie selbstverständlich zum Bestandteil des Textes werden lässt. Anhand des insgesamt recht überschaubaren Personals wird immer wieder die Frage nach den Rollen aufgeworfen, die ein Mensch im Verlauf seines Lebens spielt oder zu spielen gezwungen ist. Karin zum Beispiel, Diva und gealtertes Schönheitsideal, betrogene Ehefrau und Mutter, Verletzte und Verletzerin. „Melodram“, so heißt nicht nur der Roman, sondern auch der letzte Film, an dem der Regisseur Wolfgang Hoffmann, der unter nicht ganz zu klärenden Umständen verunglückt, gearbeitet hat. Karin, die eigentlich für die weibliche Hauptrolle vorgesehen war, wurde auf Druck der Produzentin Fiona, Wolfgangs Geliebter, durch Karla ersetzt.

So überlagern sich die Handlungsrealität des Films und die Romanrealität zusehends. Das ist kein sonderlich neuer Einfall, aber er ist einleuchtend umgesetzt. Gegen Ende wird das Buch zu einer kuriosen Liebesgeschichte zwischen Karin und dem wesentlich jüngeren Hans, der, und hier überspannt Jonigk den Bogen möglicherweise ein wenig, beinahe ausschließlich in Literaturzitaten spricht. Andererseits ist es Jonigk hoch anzurechnen, dass er seinem Roman in seinen geschlechterdiskursiven und amourös komplizierten Passagen eine subtile Komik hat zukommen lassen. CHRISTOPH SCHRÖDER

Thomas Jonigk: „Melodram“. Droschl Verlag, Graz/Wien 2013, 196 Seiten, 19 Euro