Geschichte tanzen

ERINNERUNGSKULTUR Der Tanzkongress 2013 in Düsseldorf widmete sich Fragen des kulturellen Übersetzens und des Tanzerbes

VON HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

Philosophische Stars dürfen das. Jean-Luc Nancy, Highend-Dekonstruktivist in der Nachfolge Jacques Derridas, hatte seinen Eröffnungsvortrag „spontan“ abgesagt. Er wolle lieber mit den Anwesenden diskutieren. Das mochte diskurstheoretisch lobenswert sein, für Sabine Gehm und Katarina von Wilcke, die Leiterinnen des diesjährigen Tanzkongresses in Düsseldorf, bedeutete das eher einen Schlag ins Kontor.

Nancy, ausgewiesener Tanzkenner durch seine Zusammenarbeit mit der Choreografin Mathilde Monnier, sollte der Fachtagung zum Auftakt den intellektuellen Glamour verleihen. Daraus wurde nun nichts. Der Tanzkongress stand diesmal unter dem Motto „Bewegung übersetzen – Performing Translations“. Gemeint waren alle Formen von Übertragungsprozessen zwischen Arbeitsweisen, Körper- und Bewegungskonzepten unterschiedlicher Kulturen.

Wie zur Beglaubigung präsentierte zu Beginn der kongolesische Choreograf Faustin Linyekula seine Arbeit „La Creation du Monde 1923–2012“. Eine Eigenkreation, die das gleichnamige „Ballet nègre“ von Darius Milhaud, Fernand Leger, Pablo Picasso und Jean Börlin aus den 20er Jahren inkorporierte und es seiner naiven, verkappt hegemonialen Afrikabegeisterung wegen einer harschen Kritik unterzog.

So umstritten die Choreografie war, sie bot eine gute Diskussionsvorlage. Doch das Gespräch zwischen Linyekula und Jean-Luc Nancy geriet zu einem Musterbeispiel interkulturellen Missverstehens. Während der Philosoph sich in theoretische Allgemeinplätze flüchtete und das Fachpublikum über Josephine Baker zu belehren versuchte, wurde Linyekula immer ungeduldiger, forderte die Teilhabe an der belgisch-französischen Kultur ein und verwahrte sich gegen jede verallgemeinernde Klassifizierung als Afrikaner. Höhenkammdenker sind gegen Abstürze offenbar genauso wenig gefeit wie große Künstler. Und das Volk schon gar nicht.

In einem instruktiven Vortrag entschlüsselte die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter, wie in den modischen Tiertänzen der 20er Jahre die Unbeholfenheit des Animalischen als Statthalter für sogenannte „primitive“ Kulturen stand. Und dass selbst heute Künstler auf der Ölspur kultureller Simplifizierung ausrutschen können, musste selbst Pina Bausch erfahren. In ihrem Spätwerk hatte sie sich dem kulturellen Austausch mit Ländern von Indien bis zur Türkei verschrieben und wurde dafür der Klischierung bezichtigt. Vorwürfe, die die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein zu entkräften versuchte. Nicht kulturelle Repräsentation sei das Ziel gewesen, sondern eine Art „Doing-Dance“ als praxeologisches Aushandeln tänzerischer Grenzüberschreitung.

Der Kongress im tanzhaus nrw diente vor allem der Selbstvergewisserung der internationalen Szene. Er reflektierte aber auch aktuelle Entwicklungen, so das sich verstärkende Interesse am Tanzerbe, das gleich auf mehrere Probleme verweist: Geschichtsblindheit, mangelnde Repertoirebildung und Vernachlässigung des Tanzwissens beim Publikum. Ein guter Grund, sich damit als zweitem zentralem Thema in Düsseldorf auseinanderzusetzen.

Dass der Tanz sich seiner Geschichte bewusst werde, führt die österreichische Tanzwissenschaftlerin Claudia Jeschke auf die Erkenntnisse über den Körper als Erinnerungsträger und einer diskursiven Memoriakultur zurück. Doch erst mit der Verbreitung von Video und digitalen Speichermedien wurde die Dokumentation und Archivierung von Tanz unproblematisch möglich.

Mit welchen Verfahren heute gearbeitet wird, zeigte sowohl das arabische Projekt „ARC.HIVE“ wie auch das Digitale Pina-Bausch-Archiv. Alles was historisch davor liegt, ist Dunkelland. Claudia Jeschke sprach zu Recht von der „Fiktion von Werkgeschichte“. Das war unschwer nachzuvollziehen, als Millicent Hodson und Kenneth Archer ihre Rekonstruktion des Originals von „La Creation du Monde“ von 1923 vorstellten. Da die Choreografie nur zum Teil aus Kritiken und Zeugnissen ableitbar war, blieb vieles der Fantasie überlassen. Ehrlicherweise sprachen Hodson und Archer denn auch von einer „Recreation“. Wie soll sich ein Tanzrepertoire bilden, wenn oft nicht einmal die Werkgestalt klar ist? Ist Rekonstruktion nicht immer Überschreibung? Wie man damit spielerisch umgehen kann, zeigte Antje Pfundtner in ihrem „Nussknacker“. Einer getanzten Erinnerung an Tschaikowskys Ballettklassiker, der Fragmente bekannter Bewegungen und musikalischer Motive mit Bildern der Kindheit mischt. Am Ende ist alles Übersetzung und jede Übersetzung eben auch eine Setzung.