Abenteuer im Reich der Geliebten Führer

AUTOREN Falls in Nordkorea heimlich Untergrundliteratur geschrieben wird, so wissen wir es nicht. Das Land ist eine Leerstelle. Adam Johnson hat sie gefüllt mit seinem Roman „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“. Eine Begegnung mit dem diesjährigen Pulitzerpreisträger

■ Buch: „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ ist in sehr schöner Übersetzung von Anke Caroline Burger bei Suhrkamp erschienen. Das Buch hat 682 Seiten und kostet 22,95 Euro.

■ Preis: In der Begründung des Pulitzerpreises für Adam Johnson hieß es: Das Buch sei ein „handwerklich großartig gebauter Roman, der den Leser auf eine abenteuerliche Reise mitnimmt in die Abgründe des totalitären Nordkorea und die intimsten Bereiche des menschlichen Herzens“.

VON KATHARINA GRANZIN

Bis vor Kurzem war Adam Johnson hierzulande gewissermaßen selbst noch eine Art John Doe – so wird im Englischen jemand genannt, dessen Identität unbekannt ist. Ein Band mit Erzählungen Johnsons lag zwar in deutscher Übersetzung vor, doch so sehr viel hatte der heute 45-jährige Stanford-Dozent für Creative Writing auch auf Englisch noch gar nicht publiziert. Eine Sammlung Kurzgeschichten 2002, einen Roman 2003 und nun, nach fünfeinhalb Jahren Arbeit, das dickleibige Nordkorea-Opus „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“, für das er den diesjährigen Pulitzerpreis in der Königsdisziplin Roman bekam.

„Jun Do“ ist natürlich: John Doe. Eigentlich sei das, beteuert der Autor, nur ein vorläufiger Arbeitsname gewesen, den er seinem Helden gegeben habe, bis er sich irgendwann entschieden hätte, wie die Figur heißen sollte. „Aber allmählich habe ich gemerkt, dass ebendas seine Aufgabe war: herauszufinden, wer er ist.“

Adam Johnson sitzt entspannt auf einer Parkbank in Berlin-Mitte und blinzelt in den blauen Sommerhimmel. Der Kalifornier ist mit Frau und Kindern nach Deutschland gekommen, um eine einwöchige Lesereise zu absolvieren. „Gucken Sie mal, das orange Ding da!“, er zeigt hinüber zu einem desolaten kleinen Spielplatz, der mit zwei futuristischen Metallobjekten aufwartet. „Ich glaube wirklich, die meisten Spielzeugdesigner sind gescheiterte Science-Fiction-Autoren.“

Der Mann hat fraglos einen Blick für das Surreale. Auf die Frage nach Spielplätzen in Nordkorea sagt er, die hätten gefährlich ausgesehen, fügt aber hinzu: „Aber eine Sache, die mir auffiel, war, dass die Kinder schon von klein auf unbeaufsichtigt draußen herumlaufen. Die Leute machen sich keine Sorgen, dass andere Menschen ihren Kindern etwas antun könnten.“ Auch würde in Nordkorea niemals jemand ein Fahrrad stehlen.

Das ist ein überraschender Gesprächseinstieg von einem, der einen Roman geschrieben hat, in dem er Nordkorea als ein Land voller grausiger Absurditäten porträtiert. Natürlich muss er sich die Frage gefallen lassen, ob er denn selbst finde, dass sein Roman ein politischer Roman sei, und ob er ein Problem damit habe, dass er den Pulitzer womöglich zum Teil aus politischen Gründen bekommen habe. Doch Johnson schafft es ganz locker, eine echte Antwort elegant mit einer Retourkutsche zu umschiffen: „Wäre ich ein deutscher Autor, würde ich sagen: Ist Literatur nicht immer politisch?“ Wir lachen gemeinsam. Vielleicht hat er ja schon länger keinen deutschen Roman mehr gelesen.

Johnsons Roman heißt im Original „The Orphan Master’s Son“. Der Held, der seinen Namen nach einem Nationalhelden trägt wie alle Kinder in dem Waisenhaus, in dem er aufgewachsen ist, hat die Institution mit Hilfe einer Lebenslüge überlebt: Er glaubt, er sei der Sohn des Waisenhausaufsehers und werde deswegen nicht wie andere Kinder adoptiert, da sein Vater ihn in seiner Nähe wissen wolle.

Als Erwachsener fährt Jun Do mit einem als Fischerboot getarnten Entführungskommando über das Meer und kidnappt Menschen unter oft gewalttätigen Umständen, lernt Englisch an einer Spezialschule, fliegt als Dolmetscher in geheimer Mission nach Texas, isst dort riesige Mengen Fleisch mit den Fingern und wird nach seiner Rückkehr in ein Straflager gesteckt, wo er nur knapp dem Tod entkommt. Heraus tritt er aus diesem Lager als ein anderer: als Kommandant Ga, Ehemann der beliebtesten Filmschauspielerin des Landes, die einst eine besondere Favoritin des Geliebten Führers war.

Wie schon die kurze Zusammenfassung ahnen lässt, trägt Johnsons Roman die äußere Gestalt einer groß angelegten Abenteuergeschichte. Die Elemente, aus denen sich diese Story entwickelt, hat der Autor zum großen Teil der Wirklichkeit entnommen und neu zusammengesetzt. Ein überlegenes Gespür für abseitige Details durchzieht den Roman, ein hintergründiger Humor, der sich oft sarkastisch gibt, jedoch noch die gewaltlastigsten Schilderungen (Häutungen, Aderlässe, Folter) mit einem oft geradezu zärtlichen Firnis poetischer Absurdität überzieht.

Eigentlich, kann man bei der Lektüre denken, ist es erstaunlich, dass nicht schon längst so ein Geschichtenerzähler gekommen ist und gezeigt hat, was ein Land wie Nordkorea für die Literatur zu leisten vermag.

„Als ich anfing, über Nordkorea zu schreiben, haben alle gesagt, Adam, du spinnst doch“, grinst Johnson und erzählt, wie alles begann. Für einen Kurs über Autobiografien, den er gab, habe er, eine reine Zufallswahl, „The Aquariums of Pyongyang“ von Chol Hwan-Kang gelesen, Überlebendem eines nordkoreanischen Lagers.

„Ich hatte mich immer für relativ gut informiert gehalten. Aber tatsächlich wusste ich gar nichts, nicht einmal über den Koreakrieg, in den mein Land verwickelt war. Ich fing an zu lesen wie ein Besessener.“ Irgendwann habe er begonnen, „aus Spaß“ ein bisschen zu schreiben, kleine Szenen, satirische Propaganda, obwohl er eigentlich gerade an einem Roman über den Irakkrieg arbeitete. „Ein völlig unsinniges Projekt, das ich damals für wichtig hielt.“ Und irgendwann habe er gemerkt, dass er schon mitten in der Arbeit an etwas anderem war, das größer zu werden begann.

Aber was hat Nordkorea als Romangegenstand, das der Irak nicht hat? Ist vielleicht gerade die Tatsache, dass man im Westen ein eher vages Bild von dem Land hat, eine großartige Gelegenheit für einen Schriftsteller, die Leerstellen mit eigenen Fantasien zu füllen?

Das findet Johnson zu einfach: „Ich denke, die Fantasie eines Autors kann von welchem potenziellen Thema auch immer angeregt werden. Aber kann die Vision verifiziert werden? Normalerweise legen wir diesen Maßstab an einen Roman nicht an, höchstens an der Oberfläche. In Nordkorea sehen wir die Oberfläche nicht, das ist der Unterschied.“

„Als ich anfing, über Nordkorea zu schreiben, haben alle gesagt, du spinnst doch“

ADAM JOHNSON

Seit der Pulitzernachricht hat der Preisträger vermutlich viele ähnliche Fragen beantworten müssen. Doch noch immer liegt diese freundliche Geduld in seiner Stimme, die man als im Umgang mit studentischer Torheit geschulter College-Dozent mit der Zeit erwirbt.

Zweifellos hat er recht, dass man ihm diese Fragen nur deshalb stellt, „weil die Nordkoreaner keine eigene Stimme haben“. Johnson erklärt dann das mit dieser Stimme noch genauer: Das heißt nicht, dass es gar keine Zeugnisse gäbe über das, was in Nordkorea vor sich geht. Doch weder schrieben diejenigen, die es nach draußen geschafft haben, Romane, noch gebe es eine Untergrundliteratur im Land selbst. „Solschenizyn hat im sowjetischen Gulag geschrieben und seine Bücher irgendwie herausgeschmuggelt. In Nordkorea haben wir nichts, kein Gedicht, kein Theaterstück, keine Erzählung, die heimlich geschrieben wurde und ihren Weg aus dem Land heraus gefunden hätte, obwohl 25.000 Menschen seit 1950 von dort geflohen sind. Falls dort heimlich geschrieben wird, so wissen wir es nicht.“

Als eine Hälfte des Romans fertig war, fuhr Adam Johnson für eine Woche als Tourist nach Nordkorea und brachte seine Aufpasser mit neugierigen Fragen zum Alltagsleben zur Verzweiflung. „Dass zum Beispiel alle Frauen dieselbe Lippenstiftfarbe trugen, fand ich extrem unheimlich.“ Niemand dort wusste, dass er Schriftsteller war, „obwohl sie das leicht hätten ergoogeln können“.

Nach dieser Reise habe er manches geändert im Roman, weil er wollte, dass die Details stimmten. Seine einzige völlig freie Erfindung sei die im Buch geschilderte nordkoreanische Geheimpolizei, denn über diesen Bereich wisse man tatsächlich gar nichts. Es gab bisher keinen einzigen Überläufer.

Adam Johnson schreibt mittlerweile längst an etwas anderem, das er nur ungern „Roman“ nennt, weil er seinen drei Kindern, die ihren Vater oft heftig vermisst haben, versprechen musste, kein Buch mehr zu schreiben. Dieses neue längere Prosastück also wird in Kalifornien spielen.

Doch noch hat Nordkorea Adam Johnson nicht losgelassen. Die neuesten Nachrichten aus Pjöngjang zu lesen ist immer noch ein unverzichtbarer Teil seiner Morgenroutine. Die Rodong Sinmun gibt es im Internet nämlich auch auf Englisch.