MAN FÜHLT SICH UNGEHEUER STARK – ABER DA KOMMT NOCH WAS
: Die einfachste Sache der Welt

VON DANIEL SCHREIBER

NÜCHTERN

Neulich fragte mich ein Bekannter, der gerne und wohl auch nicht wenig trinkt, ob ich den Fokus dieser Kolumne nicht mal von der trinkenden Gesellschaft auf den nichttrinkenden Autor lenken könnte.

Und nun sitze ich auf der Terrasse eines Ferienhauses in einem mallorquinischen Dorf und frage mich, ob ich eigentlich wirklich weiß, wie es mit dem nüchternen Leben läuft – außer dass es immer eine gute Idee ist, Sonnenschutz aufzutragen.

Alkohol erfüllt, psychoanalytisch gesehen, vor allem zwei Funktionen: Er hält die Fantasien des Egos am Laufen und er hilft, die Realität so weit auszublenden, dass man sie diesen Fantasien ohne größere Schwierigkeiten anpassen kann. Viele von uns kennen das Gefühl, dass die Welt nach ein, zwei Gläsern Wein die scharfen Kanten verliert und anfängt, ein bisschen besser auszusehen.

Natürlich wollte ich mich früher oft genug betrinken und die Grenzenlosigkeit des Rauschs erfahren, aber die meiste Zeit wollte ich vor allem jenes Gefühl der inneren Ruhe, das mit einem leichten Kitzeln auf den Lippen beginnt und dann wie eine warme Kaschmirdecke langsam den ganzen Körper einhüllt. Nüchternheit ist, glaube ich, die Suche nach dieser Ruhe. Aber ohne den Kater danach.

Wenn ich an die ersten Wochen zurückdenke, in denen ich nicht trank, kann ich mich nur wenig an die verwirrenden Stimmungsschwankungen erinnern, von denen ich weiß, dass es sie gab. Stattdessen erinnere ich mich an einen Zustand, den die meisten meiner Freunde, die nicht trinken, als „rosa Wolke“ beschreiben.

Rosa ist die Farbe des manischen Morgenschimmers des Nüchternseins. Man entdeckt, wie erholsam es ist, lange zu schlafen und den Tag ohne ein dumpfes Gefühl im Kopf zu beginnen. Man arbeitet mehr, freut sich, dass die Wochenenden plötzlich so lang erscheinen und dass man aus irgendeinem Grund mehr Geld auf dem Konto hat. Das Leben ohne Alkohol erscheint irgendwann wie die einfachste Sache der Welt.

Aber Rosa ist auch die Farbe einer massiven narzisstischen Hochwetterfront, im Grunde ist sie die Fortsetzung der ausblendungsfreudigen Wahrnehmungsstörung des Trinkers. Man glaubt instinktiv, dass man schon alle Prüfungen absolviert hat, die auf einen zukommen können.

Man fühlt sich ungeheuer stark, weil man noch nicht durch den Rhythmus der Jahreszeiten gegangen ist, durch die Depression des unendlich langen Berliner Winters, die Gewissheit, die Sommermonate ungenutzt verstreichen zu lassen, und die spätherbstliche Angst, zu wenig aus seinem Leben gemacht zu haben. Und man kennt den Zugzwang der unausweichlichen Einsicht noch nicht, dass es nicht äußerliche Sachen wie Erfolg, Attraktivität oder Wohlstand sind, die einem jenes Gefühl der inneren Ruhe verschaffen.

Es hat mindestens ein Jahr gebraucht, bis ich begann, die Welt, schön und enttäuschend, wie sie ist, mehr als ein paar Stunden am Stück zu akzeptieren – ein Jahr, in dem ich durch eine Trennung ging, meinen Job verlor und sich eine Freundin, die gerade wieder begonnen hatte zu trinken, das Leben nahm.

Ein Jahr, in dem sich die Einzelteile in meinem Inneren, die zusammenzuhalten, seit ich denken kann, immer große Anstrengungen kostete, langsam neu zusammenzusetzen begannen. Es mag seltsam klingen, aber heute habe ich den Eindruck, dass ich gar nichts weiß. Dass mein Kopf, diese Fantasiemaschine, eigentlich immer viel zu wenig Fantasie hatte, meine Vision vom Leben im Grunde viel zu begrenzt war – dass das Leben meistens sehr viel klüger ist als man selbst.

■  Daniel Schreiber lebt – wenn er nicht wie jetzt auf Mallorca ist – in Berlin. Er ist Autor der Biografie „Susan Sontag. Geist und Glamour“