Bilder im Kopf

INKLUSION Musik ist zählbar und transportiert Emotionen: Wie hörgeschädigte Jugendliche an der Hamburger Elbschule gemeinsam mit Hörenden musizieren lernen

Die Kinder pflegen intensiven Blickkontakt, schauen angespannt, achten konzentriert aufeinander

VON ORANUS MAHMOODI

Der Bassist zupft den Lauf von Nirvanas „Smells like Teen Spirit“, während der Schlagzeuger seine Trommeln sortiert: Eine Band trifft sich zur Probe im Musikraum der Hamburger Elbschule. Es ist eine Schule für hörgeschädigte Kinder. Die Musiklehrerin Kathrin Jacobsen ringt um Aufmerksamkeit: Sie stellt sich in die Mitte des Raumes und winkt. Fünf Jugendliche bilden einen Kreis mit Jacobsen und Mischa Gohlke in der Mitte. Der 32-Jährige ist Profimusiker und fast taub, er trägt ein Hörgerät.

Aufklärung für Eltern

„Grenzen sind relativ“, heißt sein Motto, das Ziel ist Inklusion. 2010 hat er sein Projekt „Musikunterricht für Hörgeschädigte“ in Kiel gestartet, mittlerweile engagiert er sich deutschlandweit. „Manchmal muss ich hörende Eltern darüber aufklären, dass Musik und die Hörschädigung ihrer Kinder zusammengehen. Musikunterricht für Hörgeschädigte klingt sensationell, ist aber in der Praxis unspektakulär“, sagt Gohlke vor Probenbeginn.

Musik ist für ihn ein Experiment gewesen, das geeignetste Transportmittel für Gefühle. „Ich hatte aber auch den Ehrgeiz und die Leidenschaft, täglich acht Stunden zu üben“, grinst Gohlke. Anfangs hat er noch errechnet, welche Intervalle in einem Stück vorkommen, Musik war höhere Mathematik und Theorie. „Theorie gibt einem Sicherheit – inzwischen ist mein inneres Gehör trainiert.“

Gohlke ist Autodidakt. Nach dem Abitur wollte ihn keine Musikhochschule aufnehmen – seine Hörschädigung passe nicht, hieß es dann lapidar. Seither kämpft Gohlke für Inklusion. Beim „Musikunterricht für Hörgeschädigte“ sieht er sich nicht bloß als Vorreiter, sondern als Botschafter und Multiplikator für das große Ziel. In seiner eigenen Band musiziert er mit Normalhörenden. Inzwischen bringt er auch Musiklehrern bei, wie sie Hörgeschädigte unterrichten können, und klärt auf: „Musik und Hörschädigung passen sehr wohl!“

Inzwischen bilden Kathrin Jacobsen, Gohlke und die 13- bis 15-jährigen Schüler einen Kreis und stampfen – zunächst uneinheitlich, dann im Takt. Ein, zwei, drei und vier – alle zählen mit, bald trampeln die Beine automatisch im Viervierteltakt. Die Jugendlichen sollen sich so in die Achter-Sequenzen einfühlen. Jacobsen beginnt einen Rhythmus zu klatschen. Die Kinder schauen konzentriert auf ihre Hände, während sie Schritt halten, dann allmählich mitklatschen. Es geht der Reihe nach: Einer klatscht einen Rhythmus vor, die anderen wiederholen: ganze, halbe und Viertelnoten – die Kinder blicken einander aufmerksam an.

Jacobsen winkt ab. Alle Regungen der Lehrerin sind körperintensiv. „Ist euch etwas aufgefallen?“, fragt Jacobsen, spricht dabei betont langsam und blickt in die Runde. Jacobsen selbst ist eine „Hörende“, beherrscht aber die Gebärdensprache, setzt sie aber nur ein, wenn die Jugendlichen partout nicht von den Lippen lesen können.

Die Jugendlichen tragen Hörgeräte oder ein Cochlea-Implantat, eine Art Hörprothese. Bloß können Töne mit diesen Hörgeräten weder ausgeblendet noch gefiltert werden, jeder Klang in der Umgebung rauscht direkt ins Ohr. „Wir waren am Ende nicht im gleichen Takt“, sagt ein Kind, die Lippen deutlich formend.

Im inneren Takt

Gohlke rührt sich, zieht die Aufmerksamkeit auf sich: „Wenn du nur noch Soundmatsch hörst, zähle und steige erst dann wieder ein, wenn du dich sicher fühlst. Bewegt euch in eurem inneren Takt, das wirkt später auf der Bühne sogar cool“, ermutigt Gohlke. Die Jugendlichen begeben sich wieder zu ihren Instrumenten: Schlagzeug, Bass, Gitarre, Keyboard, Bongos. Gohlke und Jacobsen stellen sich für alle sichtbar in die Mitte des Raumes. Gohlke winkt zur Ruhe, zählt, zehn Sekunden ist es still, die Jugendlichen konzentrieren sich, einige schließen die Augen.

Gohlke zählt ein zweites Mal an seinen Fingern ab: zehn! Schlagzeugeinsatz: Sönke trommelt. Die Augen der Bandmitglieder sind abwechselnd auf Jacobsen, Gohlke und wieder auf Sönke gerichtet. Permanent zählen alle: Der Keyboarder spielt einhändig und zählt an der anderen Hand ab, die anderen wippen die Füße im Viervierteltakt. Es ist die Probe einer Schulband für den nächsten Auftritt. Auffällig ist nur, die Kinder pflegen intensiven Blickkontakt, sie schauen angespannt und achten aufeinander. Zweimal spielen sie den Nirvana-Song, dann ist Pause. „Musik ist für mich wie eine Welle, ich spüre gute Musik, sie geht durch meinen Bauch und durch meine Gedanken – es ist wie ein Kribbeln“, erklärt Sönke. Auch privat bekommt er Schlagzeugunterricht. Simon, der Keyboarder nutzt die Pause, um präzise Beethovens „Für Elise“ zu spielen. Er würde gerne eine Musikerlaufbahn einschlagen, hat schon einen Song komponiert. „Wenn ich Musik höre, habe ich immer Bilder im Kopf – die kommen von alleine“, sagt Simon. Die Band spielt sein Lied. Abschließend sitzen die Kinder im Kreis.

Ob sie auch mit Hörenden musizieren würden? Die Jugendlichen verneinen. „Nur, wenn sie meine Hörschädigung nicht kommentieren“, sagt Simon schließlich. Gohlke beschwichtigt: „Man braucht keine Berührungsängste zu haben – in einer Band geht es vor allem um Sympathie.“