Zum Geburtstag von Jacques Derrida: „Ich habe Adorno nie intensiv gelesen“

In Frankreich rezipierte man andere deutsche Philosophen als hier. Warum das so war, erklärt Jacques Derrida in einem bisher unveröffentlichten Interview.

Dekonstruktivistischer Bilck: Jacques Derrida im Jahr 2000. Bild: dpa

Seit Voltaires Gesprächen mit Friedrich dem Großen entstand ein kontinuierlicher Dialog zwischen deutschen und französischen Philosophen. Das ist umso beachtlicher, als sich seit der Aufklärung diesseits und jenseits des Rheins die wirkmächtigsten Philosophien herausgebildet haben. Deswegen wünschte sich Jacques Derrida, als er im September 2001 mit dem Adorno-Preis geehrt wurde, es sollte einmal „eine vergleichende Geschichte der französischen und deutschen Erbschaften von Hegel und Marx“ geschrieben werden. Zugleich hoffte Derrida, Zeuge einer „neuen Aufklärung“ zu werden. Kurz vor seiner Frankfurter Dankesrede sprach Klaus Englert mit dem Pariser Philosophen.

taz: Herr Derrida, in Ihrem Werk haben Sie sich zwar immer wieder mit deutschen Philosophen auseinandergesetzt, doch der Name des Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno kommt darin kaum vor. Wie sehen Sie denn Ihr Verhältnis zu Adorno?

Jacques Derrida: Ich gebe gerne zu, dass ich Walter Benjamin wesentlich näher stehe als Adorno, über den ich niemals ein Buch geschrieben habe. Als ich meine Vorlesungen über „Nationalité et nationalisme philosophiques“ hielt, kam ich allerdings auch auf Adornos Vortrag „Was ist deutsch?“ zu sprechen, der sich auf das Verhältnis des Deutschen mit dem Nationalismus bezieht.

Ebenfalls hat mich sehr die Philosophie der Musik interessiert, da Adorno dort eine Tierphilosophie entwickelt, die sich stark von Kants Position absetzt. Adorno kritisiert dort Kants Hass auf die „Tierähnlichkeit des Menschen“, und in diesem Zusammenhang erklärt er, dass für den Kantianer die Animalität des Menschen ein Tabu darstellt. Diese kritische Haltung Adornos ist mir sehr sympathisch. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, inwieweit diese Kritik auch gegenüber Hegel und Heidegger berechtigt ist.

Sie haben ihn also gelesen.

Trotz meiner Nähe zu Adorno muss ich allerdings gestehen, dass ich seine Schriften nicht intensiv gelesen habe.

Wie ist es denn gekommen, dass sich die französischen Philosophen stark für Walter Benjamin interessierten, aber viel weniger für die anderen Autoren und noch weniger für die zweite Generation der Kritischen Theorie?

In Frankreich wird die Kritische Theorie von Adorno/Horkheimer völlig anders gesehen als die der nachfolgenden Generation. In der gesamten Nachkriegszeit hat man sich in Frankreich wesentlich weniger für die Frankfurter Schule eines Adorno oder Habermas als für das Denken von Heidegger und Nietzsche interessiert. Aber ich möchte eines festhalten: Das Erbe deutschen Denkens hat sich in Deutschland und Frankreich verschieden ausgeprägt.

wurde am 15. Juli 1930 als Sohn jüdischer Eltern in Algerien geboren und starb am 8. Oktober 2004 in Paris.

Derrida ist einer der einflussreichsten Philosphen des 20. Jahrhunderts und der Begründer der sogenannten Dekonstruktion, die seit den späten sechziger Jahren die Philosophie sowie Interpretationen in der Literatur, Kunst und Architektur prägte.

Dekonstruktivistisches Denken bedeutet, davon auszugehen, dass es keine absolute Wahrheit und keine wahre Interpretation gibt, anders als das die Hermeneutik annimmt. Derrida war beeinflusst von Martin Heidegger. Heidegger wurde aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft und ideologischen Verstrickungen in Deutschland nach dem Nationalsozialismus kaum noch rezipiert. Besonders die Frankfurter Schule und in ihr Theodor W. Adorno, die Philosophie und Soziologie in Deutschland seit den sechziger Jahren prägten, kritisierten ihn grundlegend.

In Frankreich hingegen setzte, ausgehend von Heideggers Kritik an der Metaphysik, ein produktiver philosophischer Diskurs ein. Derrida lehrte an verschiedenen Hochschulen in Paris und im Ausland, überwiegend in den USA. Zu seinen berühmtesten Büchern gehört "Die Schrift und die Differenz" von 1967. (taz)

Inwiefern?

In den beiden Ländern haben sich ganz andere Traditionslinien herausgebildet, deshalb wird das Erbe von Hegel oder Marx anders gedeutet, und die unterschiedlichen Begriffe Aufklärung und Lumières werden jeweils anders verstanden. Tatsächlich ist man in Frankreich aus historischen und politischen Gründen mit dem Erbe Hegels, Marx’, Nietzsches und Heideggers völlig anders umgegangen. Es kam vor, dass viele meiner französischen Kollegen die von Habermas und Adorno vorgetragene Kritik an der Hegel’schen Philosophie teilten. Aber sie rezipierten Hegel und Marx niemals in der gleichen Weise.

In der deutschen Nachkriegszeit schwieg man aus verständlichen Gründen zu Heidegger und Nietzsche, diese Philosophen waren für Jahrzehnte in Deutschland tabu. Dagegen las man in Frankreich Heidegger und Nietzsche völlig unbelastet, aus politischen und geschichtlichen Gründen hatte man einen völlig anderen Zugang zu ihnen. Das bedeutet nicht, dass es in Frankreich mehr Nietzscheaner und Heideggerianer gibt oder dass sich französische Intellektuelle zu einer dogmatischen Heidegger-Treue bekannt hätten, allein um sein Erbe zu bewahren. Ganz im Gegenteil, der Unterschied besteht darin, dass man einen freieren Umgang mit diesen Philosophen pflegte.

In den Philosophie-Seminaren in Frankreich hat man eine kritische Lektüre gepflegt, die in den ersten Nachkriegs-Jahrzehnten in Deutschland aus moralischen Gründen unmöglich war. Tatsächlich gab es in Frankreich kaum jemanden, der Heidegger unkritisch las. Vielmehr entwickelte sich eine äußerst kritische Heidegger- und Nietzsche-Rezeption.

In Deutschland war die Rezeption der Kritischen Theorie seit der 68er-Generation lange Zeit politisch motiviert. Dagegen hat man in Frankreich Autoren wie Adorno, Benjamin und Habermas anders wahrgenommen. Auch Adornos völlige Ablehnung von Heideggers Denken stieß in Frankreich auf Unverständnis. Wie erklären Sie sich dieses ungleiche Verhältnis?

Ich denke, dass Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ leider einen starken Einfluss auf das Heidegger-Bild in Deutschland ausübte. Man darf natürlich nicht vergessen, dass Adorno, Horkheimer und Benjamin jüdische Emigranten waren. Es gab also stark persönliche und geschichtliche Gründe, die Adornos Heidegger-Lektüre prägten. Wie Sie wissen, komme ich auch aus einem jüdischen Elternhaus, aber die andersartige politisch-kulturelle Atmosphäre im Frankreich der fünfziger und sechziger Jahre hat es mir ermöglicht, einen anderen Zugang zu Heideggers Philosophie zu bekommen.

Sie haben vorhin die Vorliebe französischer Philosophen für Walter Benjamin angesprochen. Ich würde sagen, dass wir Benjamin außerhalb des Frankfurter Instituts für Sozialforschung wahrnahmen. Das liegt nicht einfach daran, dass er uns am „französischsten“ vorkam, weil er lange Zeit in Frankreich lebte und mit der hiesigen Kultur vertraut war.

Sondern?

Ich gebe zu, dass die Verhältnisse nicht ganz einfach zu deuten sind. Aber ich würde sagen, die französische Vorliebe für Benjamin liegt darin begründet, dass er von der Frankfurter Gruppe, selbst von seinen engen Freunden, von Adorno und Scholem, nicht sonderlich gut behandelt worden ist. Ausgerechnet diese isolierte Position führte in Frankreich dazu, dass man ihn wesentlich mehr las als Adorno, Horkheimer oder Habermas.

Was waren die Hintergründe?

Das deutsch-französische Verhältnis ist äußerst kompliziert und verworren. Es verlangt nach einer gewissenhaften und umfangreichen Aufarbeitung, die ich selbstverständlich in diesem Rahmen nicht anbieten kann. Diese Geschichte müsste noch geschrieben werden. Was hat sich vor und nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschland und Frankreich abgespielt? Wie hat sich die Frankfurter Schule entwickelt?

Und wie kam es dazu, dass man in Frankreich den in Deutschland verfemten Philosophen Nietzsche und Heidegger einen völlig anderen Stellenwert zuerkannte und dabei ausgerechnet eine ganz bestimmten Benjamin bevorzugte? Es gilt zu erkunden, was die jeweiligen Strategien miteinander verbindet und voneinander trennt. Und inwieweit eine radikale dekonstruktive Strategie, die ich vertrete, mit der Erbschaft Heideggers anders umgeht, als es Adorno getan hat. Ich bin davon überzeugt, dass diese Geschichte noch zu schreiben ist.

Woran liegt es denn, dass Sie sich über viele Jahre hinweg immer wieder einem Denker wie Walter Benjamin gewidmet haben?

Benjamin war Philosoph, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Journalist und Essayist. Er verkörpert einen Schreibstil, der den französischen Lesern sehr entgegenkommt. Für mich persönlich kommt ein wichtiger Aspekt hinzu: In der Universität fühlte ich mich niemals wirklich zu Hause. Daher rührt meine Sympathie für Walter Benjamin, der ebenfalls mit der Universität große Probleme hatte.

Ich habe sehr gewissenhaft den Briefwechsel von Benjamin gelesen, besonders seine Korrespondenz mit Adorno, weil mich der Umgang mit seinen Freunden interessierte. Aber man sollte eines nicht übersehen: Die deutsche Universität und sogar die Frankfurter Schule waren durchaus sehr heterogen, und diese Heterogenität prägte auch das Verhältnis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zu seinen nicht-akademischen Mitgliedern, beispielsweise zu Walter Benjamin.

Der Interviewer Klaus Englert ist Autor von „Jacques Derrida“, erschienen 2009 bei UTB/Fink Verlag.

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