Lasst uns eine Münze werfen

THEATER Das Berliner Performancefestival „Foreign Affairs“ hat seine Abschlusstage unter das Motto „Die Wette“ gestellt. Wetten, dass Saskia Sassen und Richard Sennett da waren?

VON RENÉ HAMANN

Im Jahre 2090 wird die See schwarz. In der Zukunft werden allen Fischen Beine wachsen, und die Insekten werden zu schwer, um noch fliegen zu können. In der Zukunft werden Autos mit mentaler Energie betrieben, und Paare können sich via Telepathie streiten, während sie scheinbar friedlich nebeneinander auf einer Gesellschaft sitzen.

Es waren Sätze wie diese, die immer wieder durch die Gegend schwirrten an diesem Wochenende in Berlin, wo das Theater- und Performancefestival „Foreign Affairs“ stattfand. Unter dem Motto „Die Wette“ gab es das Abschlusswochenende. Wobei man sagen muss: Es gab viel Kunst, es gab einiges an Performance, und geredet wurde auch sehr viel. Sehr international war es auch – auch wenn das britische Englisch dominierte. Nur das Theater kam etwas zu kurz.

Aber dafür gab es das Ensemble „Forced Entertainment“, das in dem Fünfstundenstück „All (Tomorrow’s Parties)“ eben diese Zukunftsaussagen auf das Publikum losließ. Vier Sprecher, die wie bei einer Podiumsveranstaltung Sätze vom Zettel ablesen, mal aufeinander reagierten, mal nicht. Sehr reduziertes Theater, wenig Performanz, aber Sätze, Gedanken, Prognosen, die hängen blieben und ein Licht ins Dunkel der Zukunft warfen und gleichsam auf die Gegenwart zurückstrahlten – in der Zukunft werden die Menschen ihr Augenlicht verlieren, und wie man schmeckt und wie man sich anfühlt, wird viel mehr zählen als das Aussehen.

Oder sprachliche Performanz. Vorher hatte Elena Esposito von der Uni Bielefeld (Luhmann-Schülerin!), jetzt Modena, mit ihrem bezaubernden italienischen Akzent die Zukunft auch mal in den Plural gesetzt. Die Zukünfte. Aber ging es nicht um die Wette? Ja, doch, aber man setzt selten auf Vergangenes. Man setzt gern auf etwas, das noch kommen wird. Wie bei einem Fußballspiel – ich musste daran denken, wie beim Fußball versucht wird, das Risiko minimal zu halten, indem man sich die beste Mannschaft zusammenkauft, und den besten Trainer mit der besten Taktik etc., und wie wahrscheinlich es dennoch ist, dass diese Mannschaft einmal verliert. Wenn auch nicht im Champions-League-Finale. Ein Spiel, ein Schmerz, der auch in Zukunft – aber lassen wir das.

Doch Vorträge sind zum Abschweifen da, und um Abschweifung ging es auch sehr stark auf diesem Abschlussfestival. Während Esposito mit Hintergrundfilm und Untertiteln arbeitete, die ihre Thesen noch einmal auf den Punkt brachten: „Die Bewegungen des Marktes sind unvorhersehbar, aber nicht zufällig“ – konnte man draußen im Foyer des Hauses der Berliner Festspiele zahlreiche Wetten auf eher alberne Spielchen abschließen, die vom „Wett-Master“-Team mit u. a. Tanja Krone organisiert und durchgeführt wurden. Von Altererraten bis Dosenstechen. Zu gewinnen gab es Knöpfe und einen Jackpot.

Schon am Vortag hatte das Team „Reactor“ aus England im KW-Institut mit dem „Dummy Button“ Spielshow, Varieté, Zirkus, Jahrmarkt und Wettbüro miteinander vermengt – ein großer Spaß für alle; sehr ironisch dargebracht, sehr grell, aber so naheliegend wie eine Favoritenwette. Wobei klar wurde: Kennt man die Regeln nicht, wirkt alles zunächst undurchschaubar und kompliziert. Es kommt erst das Wissen, dann das Abschätzen.

Das zeigte auch das Filmprogramm, das abends im Hof der KW stattfand. In Pilvi Takalas Kurzfilm „Players“ erzählt ein Profipokerspieler von der Absurdität des Lebens in den oberen Etagen von Hotelhochhäusern. Davon, wie auf Reaktionen von Kellnern gewettet werden kann, darum, wer den nächsten Drink bestellt; jeder Tag, jede einzelne Entscheidung eine, die durch ein Spiel getroffen wird. Ruf ich sie an oder nicht? Werfe ich doch eine Münze! Schön, dass auf der Bildebene Künstlerinnen das Ganze mit Low-Budget-Mitteln inklusive Schnick-Schnack-Schnuck nachspielten.

Also, wie wahrscheinlich war es, bei dem etwas verwirrenden Programm zuerst an den falschen Ort zu fahren? Wie wahrscheinlich war es, neben den allerletzten drei freien Plätzen zu sitzen, während vorn uns die taz-Kollegin Ulrike Herrmann ein Gespräch zwischen den Eheleuten Saskia Sassen und Richard Sennett moderiert? Wie wahrscheinlich, dass Frau Sassen um einiges eloquenter und witziger auftrat als ihr altersmüde wirkender Ehemann, der versucht hatte, das Unwesen der Hochfinanz mit Spieltrieb und Ludomanie (!) à la Dostojewski zu erklären und riet, statt auf Occupy auf die Gründung von kleinen lokalen Geldinstituten zu setzen?

Wie wahrscheinlich, dass die von Johannes Kreidler als Akkorde gespielten Lottozahlen seit 1955 gut klingen? Nicht sehr wahrscheinlich. Auch Heatsicks live improvisierte elektronische Musik zum Festivalausklang klang nicht wie die neueste Ziehung, wie überhaupt man konstatieren musste, dass vieles nett, vieles ambitioniert, einiges gut durchdacht – und dennoch nicht immer gewinnbringend daherkam. Vielleicht lag das schlicht am Thema.

Recht weit von diesem – der Wette – entfernt hatten sich Barbara Matijevic und Giuseppe Chico. Matijevic performte mit Macbook zu gesampelten YouTube-Videos. Alle Abgründe der Menschheit ausagiert. Grotesk und komisch. Und somit paradoxerweise der eigenständigste und überzeugendste Beitrag. Schade, falls Sie das verpasst haben sollten.