DAS ANTIPROVINZIELLE IM GLOBALEN DORF
: Kennen Sie Stockerau?

Knapp überm Boulevard

ISOLDE CHARIM

Kennen Sie Stockerau? Bei einer Podiumsdiskussion kürzlich in Wien waren sich die Diskutanten – alle aus dem Bereich der bildenden Kunst – einig: Die Unterscheidung Zentrum/Peripherie gibt es nicht mehr. Es gibt keine Metropolen mehr und deshalb auch keine Provinz. Man kennt das Argument. Internet, Globalisierung, Mobilität hätten diese Unterscheidungen aufgelöst. Aber kennen Sie Stockerau?

Das ist ein Städtchen in der Nähe von Wien. In diesem einen Satz liegt schon die ganze Provinz. Ein Städtchen – also weder Stadt noch Land: keine ganz andere Lebensweise wie auf dem Land, sondern nur weniger Stadt. Und in der Nähe von etwas, was man kennt. Kurzum – Provinz lässt sich nur negativ, nur als Abwesenheit von etwas anderem definieren.

In diesem Städtchen nun, in Stockerau, gibt es ein Sommertheater. Man gibt den „Besuch der alten Dame“ von Dürenmatt – ein etwas tristes Stück, aber eine artige Inszenierung, die eine schöne Freiluftkulisse gut bespielt, gelungene Bilder, einige geschickte Theaterhandwerker und – Anne Bennent. Wie ein Ufo aus einer anderen Welt verweist sie die anderen auf der Bühne in eine sehr authentische Provinzdarstellung. Während sie ganz allein jene große, weite Welt repräsentiert, von der man dachte, es gäbe sie nicht mehr. Sie reinstalliert im Alleingang den Unterschied Provinz/Metropole.

Das ist auch eine interessante Verdoppelung. Denn in dem Stück geht es nicht nur um die Korruption – es geht auch um den Aufbruch einer Frau in die große, weite Welt. Damit reiht sich das Stück ein in die lange literarische Tradition weiblicher Figuren, die aus beengenden Verhältnissen ausbrechen. Aber wohin führt sie das? Meist endet der literarische Aufbruch in der Gosse. Bei Horvath etwa. Aber bei Dürenmatt gerät der Aufbruch zur ökonomisch vermittelten Selbstermächtigung. Und so kehrt die alte Dame als Vertreterin jener großen Welt zurück, in die sie einstmals aufbrach.

Die gar nicht alte Anne Bennent wird im Programmheft als eine ebensolche Repräsentantin angepriesen. Da wird die berühmte Schauspielerfamilie angeführt (der Vater, der Bruder, die Blechtrommel). Und dann noch die eindrucksvolle Liste berühmter Regisseure, mit denen sie gearbeitet hat. Aber das Große lässt sich nicht durch Namedropping, durch die Einreihung ins Illustre fassen. Es ist nicht durch den Verweis auf etwas anderes zu gewinnen. Es entsteht vielmehr in diesem Augenblick, auf dieser Bühne.

Hier entfaltet sie sich, die große, weite Welt, die in der Vorstellung von Metropole dingfest gemacht werden soll – hier, in diesem zarten Körper einer kleinen, unbändigen Frau, die sich Hals über Kopf ins Spiel wirft. Hier in dieser Leidenschaft, in dieser Präsenz. Auch in ihrem Witz – etwa wenn sie ziemlich kokett ein kleines Tänzchen wagt, um die Qualität ihrer Beinprothese zu belegen. Oder in der Erotik eines kurzen Striptease, wo es ihr gelingt, die alte Frau durch die Sexiness durchschimmern zu lassen.

Die große, weite Welt, das Nicht-, das Antiprovinzielle, die Überwindung der Enge, die es auch noch im globalen Dorf gibt – das ist nicht nur eine geografische Bestimmung, auch nicht nur eine Quantifizierung (mehr Leute an einem Ort). Der offene Raum, in den man aufbricht, ist eine Qualität, eine Intensität der Lebensform. Und dazu braucht es – auch heute, wo jeder dazu angehalten ist, kreativ „sein Ding“ zu machen – Leute, die einen tatsächlichen, nicht jenen verordneten Eigensinn leben, der Riskieren mit Können verbindet. Riskieren ohne Können führt in den destruktiven Exzess und hinterlässt zahllose gescheiterte Existenzen. Können ohne Risiko jedoch erschöpft sich in handwerklichem Geschick.

In Stockerau wird derzeit nicht einfach ein Lehrstück über Korruption aufgeführt, sondern vor allem ein Lehrstück über das Aufeinandertreffen, den Einbruch der großen Welt in die Provinz: Der Besuch der Grande Dame in Stockerau.

PS: Anne Bennent hat vor Jahren das Wiener Burgtheater verlassen und lebt in einem kleinen Städtchen in der österreichischen Provinz.

■  Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien