Castorf bei den Bayreuther Festspielen: Das Trauma der DDR

Für ihren „Siegfried“ müssen die Freunde Richard Wagners zurück nach Ostberlin. Frank Castorf zeigt ihnen, wie es dort einmal wirklich war.

Alexanderplatz und Weltzeituhr im Bühnenbild von Aleksandar Denic. Bild: AFP/ Bayreuther Festspiele/ Enrico Nawrath

Am zweiten Tag des Bühnenfestspiels, um bei Wagners Zählung zu bleiben, in der die zweieinhalb Stunden des „Rheingold“ nur ein „Vorabend“ sind, spät also, war nun auch in Bayreuth auf der Bühne zu sehen, dass Frank Castorf tatsächlich Regie geführt hat in diesem „Ring des Nibelungen“ zum 200. Geburtstag des Komponisten. Zum Schlussapplaus ließ er sich trotzdem nicht vor den Vorhang locken, denn natürlich wäre das Buhgeschrei noch viel gewaltiger gewesen, als es auch ohne ihn war.

Aber es gab auch entschiedene Zustimmung einer hörbaren Minderheit. Und beide hatten recht, die Empörten wie die Begeisterten, denn Castorfs „Siegfried“ hat mit Wagners Textbuch gleichen Namens nichts mehr zu tun.

Was dort, bei Wagner, die bloß ausgedachte Konstruktion eines reinen Toren war, wird bei Castorf zur erfahrungsgesättigten Figur eines ahnungslosen, zornigen jungen Mannes, der fassungslos den Zusammenbruch seiner Lebenswelt erlebt, einer Welt, die er zwar hasst, aber dennoch auch liebt, weil sie die einzige ist, die er kennt.

Es gibt beides in dieser Welt, den bösen Ziehvater, „Mime“ genannt, der in seinem Wohnwagen unter dem Felsen des Mount Rushmore haust. Nur sind oben nicht die unerreichbar fernen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in den Stein gehauen, sondern die furchtbar nahen Köpfe von Marx, Lenin, Stalin und Mao Tse-tung.

Unter der Weltzeituhr

Und es gibt die Rückseite dieses Monuments der Nacht: den Alexanderplatz, als hyperrealistische Hommage an die DDR nachgebaut von Castorfs auch hier schlichtweg genialem Bühnenbildner Aleksandar Denic. Hier, unter der Weltzeituhr, singt das Waldvögelein seine unsterblich schöne Zwitschermelodie. Siegfried verliebt sich sofort in das Mädchen im Showkostüm aus dem Friedrichstadt-Palast.

Menschen sind es, keine Allegorien, die in dieser Doppelwelt leben. Wotan, der Wanderer, wird mit der Weinflasche in der Hand seine blöde Erda zum Teufel schicken, die „Urwalla“, die auch nicht mehr weiterweiß. Mit ihm, dem kettenrauchenden, saufenden und hurenden Intellektuellen wird sie untergehen, die geliebte DDR, und mit ihr die Idee des Sozialismus insgesamt.

Castorf leidet bis heute an diesem Trauma, und denkt gar nicht daran, Rücksicht auf die Festgemeinde von Bayreuth zu nehmen. Sie muss ertragen, dass der Tod des Sozialismus weit tragischer ist als der Untergang der Wagner’schen Götter. Protest dagegen ist normal, und in der Tat wäre wohl auch hier wieder einmal ein Stück gegen die notorischen Gewaltakte dieses Regisseurs in Schutz zu nehmen.

Kirill Petrenko räumt auf

Aber Frank Castorf hat Kirill Petrenko an seiner Seite. Mit ihm wächst mit jeder Aufführung spürbarer die wahre Sensation der Festspiele heran. Auch Petrenko räumt auf mit den Mythen, aber nicht den Mythen des Komponisten Wagner, sondern mit den Mythen seiner Interpreten, die immerzu glaubten, möglichst dichten, bedeutungsschwangeren Nebel verbreiten zu müssen.

Das genaue Gegenteil bei Petrenko. Während oben Castorf den Text in die Tonne tritt, kehrt unten die Partitur in einer Weise zurück, die im Wortsinne unerhört ist. Mit Ovationen bedanken sich gerade Bayreuther Stammgäste für einen Wagner, der endlich mehr ist als der bekannte Kulissenschieber von Leitmotiven und Klangtapeten. Takt für Takt entwickeln sich vielmehr subtile Kontrapunkte, auch der breiteste Klang lebt von seinen instrumentalen Mikrostrukturen und genial gemischten Klangfarben.

Mit dieser Begleitung sorgt dann Catherine Foster als Brünnhilde für ein Finale, vor dem man sich nur in Bewunderung verneigen kann. Mit untrüglicher Sicherheit der Stimme lässt sie die eigentlich unmöglichen Zustände einer Frau miterleben, die mal eine Göttin war und sich nun dank dieses Schlagetots Siegfried dem Gedanken der menschlichen Liebe nähern soll. Darüber vergisst man schlicht Castorfs Kummer und verzeiht auch noch Lance Ryan, dass sein lauthals herausgesungener Siegfried damit auch nicht viel zu tun hat.

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