Ein Teenager von vierzig Jahren

ZEITREISE Komödiantischer Gestus, existenzielle Fragen: „Camille – Verliebt nochmal!“, ein neuer Spielfilm von Noémie Lvovsky

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Ein bisschen Reue gehört zum Leben. Wer die Standardfrage „Was würdest du heute anders machen?“ allzu sicher mit „Nichts!“ beantwortet, zeigt vielleicht weniger Weisheit als vielmehr Ahnungslosigkeit – darüber, was er oder sie alles verpasst hat. Er oder sie sollten vielleicht mal ins Kino gehen. Und vielleicht genau in diesen Film: Noémie Lvovskys „Camille – Verliebt nochmal!“.

Die Schauspielerin Noémie Lvovsky verkörpert in ihrem fünften Regiewerk Camille, eine Frau in einer wahrhaft verflixten Situation. Die Rückschau aufs eigene Leben bereitet der Vierzigjährigen aktuell genauso wenig Freude wie der Blick in die nahe Zukunft. Ihr Mann Éric (Samir Guesmi) hat sie nach 25 Jahren einer Jüngeren wegen verlassen. Die Tochter will nicht mehr gemeinsam mit ihr Neujahr feiern, und bald muss sie auch noch aus der vertrauten Wohnung raus, weil die als Scheidungsmasse verkauft wird. Der Blick, der Camille am leichtesten fällt, ist der zu tief ins Glas.

Das aber soll bald anders werden: In der Silvesternacht bemerkt Camille auf ihrem Weg zur Party bei alten Freundinnen ein Uhrmachergeschäft, das noch offen hat. Da ihre alte Armbanduhr den Geist aufgegeben hat und sie außerdem sachkundige Hilfe braucht, um endlich den vermaledeiten Ehering vom Finger zu ziehen, tritt sie ein. Empfangen wird sie von Jean-Pierre Léaud, dem Faktotum seiner selbst – könnte es eine treffendere Andeutung dafür geben, dass es für Camille bald darum gehen wird, aus der Zeit zu fallen? Léaud gibt den Uhrmacher als grummelnde, fahrige Gestalt, der etwas von der Sekunde vor Mitternacht murmelt. Und so geschieht es: Als es Mitternacht schlägt, fällt Camille, die gerade noch mit ihren Freundinnen getrunken und getanzt hat, in Ohnmacht. Als sie wieder aufwacht, liegt sie im Krankenhaus und wird von ihren Eltern besucht – und liebevoll beschimpft. Offenbar ist sie wieder 16.

Ungewöhnlicher Touch

Das Schöne und zugleich Seltsame dieses Films besteht darin, dass Lvovsky, selbst Jahrgang 1964, hier auch die 16-jährige Camille verkörpert. Das Element des Lächerlichen, das dem innewohnt, verflüchtigt sich überraschend schnell. Vom ersten Moment an wird nämlich der Vorteil dieses Verfahrens deutlich: Der Zuschauer behält im Blick, dass es trotz Zeitreise um die 40-Jährige und nicht um den Teenager geht, um die Perspektive der Erwachsenen und nicht einfach darum, noch einmal jung zu sein. Nur so lässt sich die ganz und gar unkindliche Rührung nachvollziehen, die Camille beim Anblick ihrer Eltern überkommt. „Ihr seht so jung aus!“, ruft sie ihnen zärtlich-trauernd zu, und es ist diese Wehmut, die dem Film seinen ungewöhnlichen Touch verleiht und ihn absetzt von den US-amerikanischen Genreverwandten. Besonders weil die Melancholie weniger der eigenen, „verlorenen“ (wie es in diesem Zusammenhang stets heißt) Jugend gilt, sondern dem Ganzen drumherum, in das die Zeit schwere Abgründe des Verlusts gegraben hat. Wie den frühen Tod der Mutter zum Beispiel, den Camille trotz ihres Wissens nicht verhindern kann.

Noémie Lvovsky, die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, verzichtet größtenteils auf den Slapstick, der sich in solchen Zeitreisehandlungen wie selbstverständlich anbietet. Im komödiantischen Gestus wagt sich Lvovsky an die ernsten, existenziellen Fragen. So kommt ihre Camille im Schulalltag schnell wieder einigermaßen zurecht. Und das erneute Zusammensein mit den Eltern genießt sie sogar sichtlich. Ihr nostalgisches Verzücktsein ob der Situation findet allerdings ein jähes Ende, als sie dem Mann (auch er gespielt von seinem Ü-40-erwachsenen Ich) begegnet, von dem sie weiß, dass er sie 25 Jahre später für eine Jüngere verlassen wird. Beim gemeinsamen Üben in der Theater-AG flirten sie, was das Zeug hält. Doch kann man sich auf eine Liebe einlassen, deren schmerzliches Scheitern man schon kennt? Aber wenn man es nicht tut, was bliebe dann noch vom eigenen Leben?

Vom wehmütigen Ernst wechselt „Camille – Verliebt nochmal!“ leichthändig ins Alberne und wieder zurück. Statt einer perfekt inszenierten 80er-Jahre-Kulisse gibt es ein liebevolles Ausstellen von Details, von intensiven, erinnerungsbeladenen Kleidungs- und Musikstücken. Wie Camille selbst kommt es dem Film nicht auf die vollkommene Rekonstruktion der Epoche an, sondern darauf, eine Brücke zu schlagen zu dem, wie sich die Dinge einst anfühlten. Der Verzicht auf die Perfektion eröffnet Freiräume, die „Camille – Verliebt nochmal!“ eine seltene emotionale Tiefe geben. Der Zeitreisefluch als Chance, sich im eigenen Leben noch einmal umschauen zu dürfen.

Dabei zeichnet sich jeder Zeitreisefilm durch seine logischen Löcher aus. Camille nutzt sie dazu, tatsächlich etwas anders zu machen. Wobei dieses „Andersmachen“ aber kein Eingreifen ist, sondern ein Aufnehmen. Denn, so der vielleicht paradoxe Schluss aus diesem wunderlich magischen Film: Wer sich gut erinnert, kann gut weiterleben.

„Camille – Verliebt nochmal!“, Regie: Noémie Lvovsky. Mit Noémie Lvovsky, Samir Guesmi u. a., Frankreich 2012, 115 Min., Kinostart am 15. 8.