Kein natürliches Habitat

PORTRÄTS Sich das Gesicht eines Schriftstellers zulegen: Zu Renate von Mangoldts „Autoren. Fotografien 1963–2012“

VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Die Schriftstellerwerdung ist begleitet von vielen „ersten Malen“. Wie ich zum Beispiel jemandem verrate, dass ich ein Buch geschrieben habe, nachdem ich es jahrelang verschwiegen hatte. Die erste Ablehnung eines Verlags. Die Zusage. Der Vertrag. Das erste gedruckte Buch in der Post. Und so weiter. Nach zwanzig oder dreißig weiteren ersten Malen entdecke ich ein Porträt, das mich zeigt, in einem Buch, das „Autoren, Fotografien 1963–2012“ heißt. Im Hochformat fülle ich nur die untere Hälfte, und zwar liegend. Aus der Hand meines linken Arms wächst ein Topfpflanzendschungel. Auf der anderen Buchseite sieht man Aris Fioretos vor einem frühen fotografischen Bild von Thomas Florschuetz, das „Der Schrei“ heißen könnte. Das Buch, in diesem Jahr erschienen, hat 500 Bildseiten, sämtlich schwarzweiß, und die Fotografin heißt Renate von Mangoldt.

Ich muss nicht lange grübeln, wann sie mich in Berlin porträtiert hat, denn die Bildzeile sagt es, im März 2010. Es war einer der vielen Besuche, seit ich die Stadt zehn Jahre zuvor verlassen hatte. Wie so viele Bewohner der Zeitkapsel Westberlin hatte sich Renate von Mangoldt eine gewisse naive Frische erhalten, die sie freudig ausspielte. Obwohl feststand, dass sie schon mehr als vierzig Jahre im Fotogewerbe tätig war, tat sie so, als sei sie noch dabei, die Kamerafunktionen zu lernen. Wir plauderten unaufhörlich, und so relativierte sie auch ihren Anspruch an sich als Fotografin – eine Teilnehmerin am literarischen Leben eben. Tatsächlich aber lenkte sie mich in die Pariser Straße, wo ich einige Jahre gewohnt hatte, und dort, im Gartenhaus, stiegen wir bis ganz oben, und was machte ich, ich legte mich bei wildfremden Leuten vor die Tür, nicht im Traum daran denkend, ihr Bild würde am Ende suggerieren, ich lebe auf einem Sisalteppich mit Grünpflanzen. Dennoch hatte sie es richtig erfasst: „Gefühlt“ war ich zu Haus.

Und mehr als das: Die „Pariser Straße“ habe ich, als Straßenstillleben, in den neunziger Jahren abgegrast, die Kamera wie eine Schildkröte an meiner Leine. Neulich, dort, am Ludwigkirchplatz Pizza essend, erlebte ich ein doppeltes Déjà-vu: meine Fotografie, die mich gelehrt hat, Details zu beschreiben, überblendet mit der Spielplatzsituation, in der Renate von Mangoldt mich auch porträtiert hat, im März 2010. Die Fotografie wird, in einer melancholisch geprägten Theorie, viel zu sehr fixiert auf ihren Bezug zur Vergangenheit. Für mich ist sie ein Portal in die Gegenwart.

Meinen ersten Porträttermin habe ich mir selbst verschafft, bei einer eher unwahrscheinlichen Gelegenheit. Es war ein Pressetermin mit Ed Ruscha im Museum Ludwig in Köln, 2006. Dort sah ich zum ersten Mal einen schmalen, älteren Herrn mit delikater Gestik, eher schüchtern, Leica um den Hals – das musste Benjamin Katz sein. Er versuchte, an Ed Ruscha ranzukommen, aber die Vorstellung wollte nicht gelingen, oder anders gesagt, Katz forderte nicht mit dem nötigen Nachdruck die Bereitschaft des großen kalifornischen Malers, sich fotografieren zu lassen.

Es war kurz vor dem Drucktermin meines Debütromans. Ich machte mich an Katz heran und hatte Glück, über die Kunstschiene wusste er, wer ich war. Ob er ein Porträt von mir machen könnte? Er dirigierte mich nach ganz oben, wo eine Betonwand sehr viel Oberlicht bekommt – für ihn ein fotografisches Atelier. Dann machte er irgendetwas, ich träumte ein bisschen vor mich hin; es waren, wie die Negative später zeigten, elf Belichtungen. Katz hatte mich in Trance versetzt. Klar, man sieht im Prinzip nur einen Mann von 47 Jahren ohne viel Haar, die Hüfte könnte schmaler sein, in einem Ringelpullover von Mexx, Chinos von GAP und Freizeitschuhen von Timberland, so what?

In der ganzen Figur erscheine ich mit überkreuzten Beinen, eine Gestik, die mit den Fingern nachgestellt sagen würde: „Gilt nicht!“ Sein Betonatelier hatte er um ein helles Bildviertel aufgestockt, das logischerweise auch nichts anderes zeigt als das Lichtdach des Ludwig: sieht aber mindestens aus wie Flughafen. Woher wusste eigentlich Katz, dass ich einen Architekturroman geschrieben hatte?

Vor zwanzig Jahren bei der taz behauptete eine Kollegin, ich sehe aus wie Tintin. Diese Knopfaugigkeit hielt Benjamin Katz in seinem Nahporträt fest, das sich dann in der Klappe des Debütromans fand. Es war deshalb so gut zu gebrauchen, bis zum Lesungsplakat, weil es den Autor als Humoristen zeigt, ohne ihm den Ernst seiner Sache streitig zu machen. Der Fotograf, damals am Ende seiner aktiven Zeit, wollte nicht einmal ein Honorar.

Katz – in den 60er Jahren – war selbst studierterweise bildender Künstler und ist dann der große Chronist der Ateliers geworden. Arne Reimer, der gerade sein fantastisches Buch „Jazz Heroes“ veröffentlicht hat, spielte das Schlagzeug, bevor er bei Timm Rautert Fotografie lernte. Die Schriftstellerporträtisten scheinen mir aber keine heimlichen Schriftsteller zu sein; Leser sind sie gewiss. Diese Fotografen sind an zwei Orten zugleich; eine visuell codierte Synästhesie. Das betrifft etwa die Hälfte aller Porträts in von Mangoldts Buch.

Die andere Hälfte bringt ein Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass der Porträtierte wirklich ein Mensch ist; einer kauziger als der andere. Gibt es ein weiteres Bild vom gleichen Autor mit einem Abstand von zehn oder zwanzig Jahren, hat sich das Phänomen eher verschärft. Da müsste man mit Klaus Staeck fragen: Würden Sie diese Person Ihr Lieblingsbuch schreiben lassen? Weil sie ahnen, was die Bilder sagen werden, sind Schriftsteller notorisch kamerascheu. Sie haben etwas von Nagern, die ans Licht gezerrt werden. Es gibt überhaupt kein natürliches Habitat – na ja, es sei denn am Schreibtisch, was noch ein passables Motiv war, solange dort eine Schreibmaschine stand. Häufig fand man Bilder von Schriftstellern vor einer Bücherwand – die Alternative war ein Baum. Oder zwei. Ich nehme an, dass die Bücherwand meinte, man gehöre zum Kosmos der Literatur, aber der Baum? Fast nie fand man Bilder von Schriftstellern in Autos. Zum Beispiel.

Inzwischen haben sich die Sitten gelockert. Viele jüngere Schriftsteller spielen ihren Verlagen private Fotos zu. Ich selbst bin zum umgekehrten Schluss gekommen: Wenn schon Profis auf Schriftsteller spezialisiert sind, muss man die Gelegenheiten nutzen. Deshalb gibt es Bilder von mir auf dem nachtblauen Motorroller, mit Goldhelm; bedripst eine gelbe Rose haltend vor einem Schriftstellerdenkmal; schräg von hinten mit einem unmöglichen Oklahoma-T-Shirt; im Lotussitz in einem Steingarten, Anzug, Schlips und auf dem Kopf ein argentinischer Lederhut; im geerbten Burberrymantel schneeballwerfend im Park. Keine(r) der FotografInnen – Jürgen Bauer, Peter Peitsch, Isolde Ohlbaum – hat meinen Elan versucht zu dämpfen. Das ist natürlich Maskerade, aber genauso natürlich ist die Einsicht, dass es ein „echtes“ Bild nicht gibt. Ein rares aber schon. Von den 500 Porträts in Renate von Mangoldts Buch findet man überhaupt nur zwei Köpfe in der Horizontale: Arno Geigers Kopf vor dem Glitzern und Flirren des Wannsees, und mein Porträt im Treppenhaus. Dabei bin ich überzeugt, dass die literarische Produktion mit dem Liegen mehr zu tun hat als mit dem Sitzen oder Stehen.

Renate von Mangoldts Buch „Autoren“ ist chronologisch gebaut, 1963–1970, 1970–1980, 1980–1990, 1990–2000, 2000–2012. Ich befinde mich im letzten Abschnitt, eine Bildstrecke, die Altersporträts von Inger Christensen, Wolfgang Hilbig, Derek Walcott und V. S. Naipaul einschließt und Zeitgenossen wie Michel Houellebecq, Uwe Tellkamp, Lutz Seiler, Marie NDiaye, Felicitas Hoppe und Ulrich Peltzer als lebendigen und treibenden Kräften des Literaturbetriebs zu einem Gesicht verhilft. Da bin ich also dabei, schlussendlich, und sogleich überfällt mich wieder dieser Schizoschub aus Stolz und Selbstzweifel, das Gefühl, aus einem schweren Traum gefallen zu sein.

Der Autor veröffentlichte zuletzt beim Suhrkamp Verlag den Roman „Nichts Weißes“

Renate von Mangoldt: „Autoren. Fotografien 1963–2012“. Steidl Verlag, Göttingen 2013, 544 Seiten, 38 Euro