Das sind die Räume von übermorgen

PREMIERE In der Deutschen Oper knüpft die Gruppe Phase 7 an das Stück „Himmelsmechanik“ von Mauricio Kagel und die Avantgarde von einst an. Auch Fritz Bornemanns Opernhausarchitektur wird gewürdigt

Selbstbewusst bekennt sich Intendant Dietmar Schwarz zu dieser oft geschmähten Architektur

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Sie ist wieder da. Die Deutsche Oper hat sich in den letzten Jahren am liebsten ins 19. Jahrhundert und seine vergessenen Kostbarkeiten zurückgeträumt, nun hat Intendant Dietmar Schwarz seine zweite Saison gleich im 22. Jahrhundert eröffnet. Opern, so war am Donnerstagabend zu lernen, werden dann virtuelle Räume aus Klängen und Bildern sein, in denen uns Sänger und Sängerinnen ihre Geschichten erzählen.

Vielleicht werden es ganz neue Geschichten sein, vielleicht aber auch die alten des Repertoires, die Geschichten von Tamino und Papageno, oder von Wotan und Brünnhilde. Das wissen wir noch nicht, aber der Komponist Christian Steinhäuser und die Autorin Christiane Neudecker eröffnen zusammen mit den Medienartisten der Gruppe Phase 7 den Horizont für Visionen von einem Musiktheater, die alles überschreiten, was wir uns bisher vorstellen konnten. Es gibt keine Bühne und keinen Zuschauerraum mehr, denn extrem fortgeschrittene Techniken der akustischen und optischen Illusion lassen beide zu einem einzigen imaginären Raum verschmelzen, in dem alles wirklich und unwirklich zugleich ist.

„Himmelsmechanik“ heißt das etwa 90 Minuten lange Stück, das zumindest erste Schritte in diese Richtung macht. Der Titel geht auf ein Stück von Mauricio Kagel zurück, das 1969 auf der Biennale von Venedig uraufgeführt wurde. Kagel schrieb eine Partitur für Bilder und Geräusche, die ein surreales Naturtheater ergeben. Aufgeführt wird es jetzt ganz oben im Foyer des zweiten Ranges. Der Dirigent Kevin McCutcheon gibt konzentriert die Einsätze für die Techniker an den Videoprojektoren und vier Schlagzeuger. Wir stehen darum herum, ein Maler malt live in Öl auf eine Leinwand, auf einer anderen gehen Sonne, Mond und Sterne auf und unter. Die Windmaschine braust, es regnet, donnert, blitzt.

War es das? Ein bisschen kindlich wirkt diese Avantgarde von damals ja schon, aber die Avantgardisten der Phase 7 haben darin völlig zu Recht ihre eigenen Wurzeln erkannt. Christiane Neudecker hat einen Text für einen Schauspieler, Sopran, Alt, Tenor und Bass geschrieben, der Kagels Miniatur fortspinnt. In einem Fernseher läuft die „Tagesschau“, der Sprecher liest vor, dass es „nach Angaben der Internationalen Untersuchungskommission“ tatsächlich zur „Verschwenkung des Himmels“ gekommen sei.

Streng seriell nach Darmstädter Sitte wird der Nachrichtentext durchpermutiert: „Nach Angaben der Himmelsverschwenkung“ ist es jetzt „zu einer Internationalen Untersuchungskommission gekommen“ Und so weiter in immer neuen Wortvertauschungen, während wir uns die grandiosen Freitreppen des Architekten Fritz Bornemann herunterbewegen müssen in das Hauptfoyer des Parketts. Ebenfalls ein Hauptwerk des „Internationalen Stils“ jener 60er Jahre der Darmstädter Avantgarde wie das Gebäude der Deutschen Oper insgesamt.

Sichtbar und selbstbewusst bekennt sich Dietmar Schwarz zu dieser oft geschmähten und verkannten Architektur. Die Inszenierung der Phase 7 schreibt nicht nur Mauricio Kagel fort, sondern auch Fritz Bornemann. Sein paradoxes, zur Straße hin brutal mit Waschbeton vermauertes, im Innern aber wunderbar lichtes und frei schwingendes Haus wird jetzt zum ersten jener virtuellen Räume, die wir in Zukunft vielleicht immer aufsuchen werden, wenn wir in die Oper gehen.

Alles ist Medium noch über die Grenzen der Physik hinaus. Steinhäuser hat wohlklingend postmoderne Musik für vier Singstimmen und Instrumente geschrieben. Sie erklingt überall, zunächst in einem Labyrinth schräger Lichtstreifen, dann in dem abgedunkelten Bunker, in dem wir vor Kagels Himmelsverschwenkung in Deckung gehen müssen. Wir sehen Sänger und Sängerinnen vor uns, stehen aber zugleich neben einem Cello, das nicht zu sehen ist. Oder einer Violine. Irgendwo spielt ein Englischhorn, oder eine Celesta. Leibhaftig gehen die vier Solostimmen dann wieder die Freitreppen hoch, auf der Suche nach einer Rettung aus der Kagel’-schen Katastrophe. Ende, das Licht geht an, und wir stehen unversehrt wieder im Foyer der Deutschen Oper von heute.

Davor ist auf der linken Seite die Straße aufgerissen worden und das Namensschild für die Abzweigung umgestürzt, die hier einmündet: „Richard-Wagner-Straße“. Was, wenn Wagner über solche Methoden totaler sinnlicher Überwältigung verfügt hätte? Irgendwie will man sich das lieber nicht vorstellen.

■ Wieder am 24., 25., 26. August