Die Lese im üppigen Weinberg

LIDOKINO 3 Außer Konkurrenz: Edgar Reiz’ Filmepos „Die andere Heimat“

Bauzäune, wohin der Blick schweift. Das traditionsreiche Hotel des Bains ist von dunklem Blech umstellt, irgendwann einmal soll das Gebäude renoviert werden, sollen Luxusapartments entstehen, wo vor 102 Jahren Thomas Mann Inspirationen zu „Der Tod in Venedig“ sammelte. Im Augenblick wachsen nur die Flechten auf der nördlichen Schmalseite. Auch der Platz am Rand des Casinò ist seit Jahr und Tag abgesperrt. Ein neuer Palazzo sollte hier entstehen, das Bauvorhaben wurde gestoppt, nachdem Asbest gefunden worden war. Jetzt ist kein Geld mehr da.

Also wird improvisiert, werden neue Kinosäle in die bestehenden Gebäude integriert, wird zum Beispiel die Sala Volpi, früher ein Annex der Sala Grande, ins Casinò verlagert. Die Klimaanlage kühlt den Saal auf ungefähr 15 Grad herunter, die Männer und Frauen am Einlass beteuern, es tue ihnen leid, ändern könnten sie nichts.

Während Edgar Reitz’ knapp vierstündiger Film „Die andere Heimat“ läuft, gebe ich mir alle Mühe, mich mit einem Tuch warm zu halten. Es ist zu dünn und zu klein, als dass es sich um Nieren, Ohren und Arme gleichzeitig wickeln ließe. Wenn die Filmfiguren über die harten Hunsrücker Winter klagen, der Kunstschnee die Mauernischen füllt, der Wind an den Fenstern rüttelt, dann bietet die Sala Volpi beste Voraussetzungen für empathisches Zuschauen.

Der Film wird außer Konkurrenz gezeigt und ist der vierte Teil des „Heimat“-Projektes, an dem Reitz, heute 80 Jahre alt, seit 1982 arbeitet. Im Mittelpunkt stehen die Bewohner von Schabbach, einem Dorf im Hunsrück, diesmal ist die Handlung in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Die Gegend ist karg und arm, die Bauern und Handwerker träumen von Brasilien, dem Land, in dem zu Weihnachten die Rosen blühen, viele packen ihre Siebensachen und ziehen fort; langsame Kamerafahrten begleiten die Aussiedler und ihre Planwagen bei ihrem letzten Weg über die Hunsrücker Hügel.

Auf einer schlichten, politischen Ebene verrichtet der Film ein gutes Werk, indem er daran erinnert, dass Deutsche vor nicht allzu langer Zeit dazu gezwungen waren, ihr Glück in der Ferne zu suchen. Man könnte sich glatt wünschen, diejenigen, die sich in diesen Tagen in Berlin-Hellersdorf oder Duisburg-Rheinhausen über syrische oder rumänische Nachbarn aufregen, mögen den Film schauen und einen Augenblick innehalten. Aber das ist natürlich ein einfältiger Wunsch.

„Die andere Heimat“ stellt aus, welche Mühe auf die Rekonstruktion der Fachwerkhäuser, der Kleidung, der Sprechweisen und Werkzeuge verwendet wurde. Auch die Kameraarbeit von Gernot Roll betont die eigene Virtuosität, besonders in den kunstvollen Plansequenzen, die das Dorf kreiselnd ausmessen.

Das digitale Schwarz-Weiß wird gelegentlich von einem isolierten farbigen Gegenstand durchbrochen, von einem orangefarben leuchtenden Kristall als Sehnsuchtsmotiv, von Blaubeeren, von einem grünen Rock, womit Reitz dem Kunstgewerbe gefährlich nahe kommt. Und obwohl so vieles akribisch rekonstruiert wird, zweifelt man bisweilen an der Armut der Figuren. Die wogenden Kornfelder, die Lese im üppigen Weinberg, das Schwein im Stall und die gut genährten Ochsen erzählen etwas anderes.

Schön dagegen ist, wie die Erzählung plätschert, ohne auf dramatische Zuspitzungen zu setzen, und wie sie bisweilen Elemente des magischen Realismus in sich aufnimmt. Auch der Gastauftritt von Werner Herzog macht Spaß. Er spielt einen soignierten Alexander von Humboldt, der einen am Feldrand sitzenden, etwas begriffstutzig wirkenden Bauern nach dem Weg fragt, und diesen Bauern spielt Edgar Reitz.

CRISTINA NORD