Keine Verantwortung, nirgends

G-20-GIPFEL Der US-Politologe Ian Bremmer analysiert die weltpolitischen Machtverschiebungen und stößt auf eine Lücke, die die schwächelnden USA hinterlassen

„Zum ersten Mal seit sieben Jahrzehnten leben wir in einer Welt ohne globale Führung“

US-POLITOLOGE IAN BREMMER

VON HANNES KOCH

Deutsche Raketen und Soldaten stehen schon in der Nähe Syriens – zum Schutz der Türkei, heißt es offiziell. Nach dem Giftgasangriff in Damaskus muss man jedoch die Frage stellen: Wäre es geboten oder verantwortbar, wenn diese Raketen einige Kampfflugzeuge des syrischen Diktators Assad abschössen, um die Widerstandskämpfer am Boden gegen die Regierungstruppen zu unterstützen? Eine besonders in Deutschland unbequeme Frage – die Tatsache, dass sie überhaupt gestellt wird, sagt viel aus über den neuartigen Zustand der Weltpolitik.

Joschka Fischer, ehemaliger Außenminister der rot-grünen Bundesregierung, schrieb unlängst: „Vor unseren Augen nimmt gegenwärtig eine postamerikanische Welt Gestalt an, die allerdings nicht durch eine neue Ordnung abgelöst wird, sondern vielmehr durch machtpolitische Ambivalenzen, Instabilität, ja Chaos.“ Sollte die ehemalige Supermacht USA tatsächlich nur eine zweitägige Bestrafungsaktion mit Mittelstreckenraketen gegen Assad durchführen, ohne eine größere Strategie anbieten zu können, wäre dies ein weiterer Beleg für Fischers These.

Der US-Politologe Ian Bremmer formuliert: „Zum ersten Mal seit sieben Jahrzehnten leben wir in einer Welt ohne globale Führung“. Sein Buch „Every Nation for Itself“ ist kürzlich auf Deutsch unter dem Titel „Machtvakuum – Gewinner und Verlierer in einer Welt ohne Führung“ erschienen. Den neuen Zustand nennt Bremmer „G 0“, was im Kürzeljargon der internationalen Politik „Gruppe der null“ heißt.

Der Begriff dient als rhetorischer Gegensatz zu der Veranstaltung, die sich ab Donnerstag dieser Woche im russischen St. Petersburg abspielt. Dort tagt der G-20-Gipfel derjenigen Staaten, deren Regierungen sich als wirtschaftlich und politisch wichtigste Akteure bezeichnen.

Zu dieser Führungsgruppe gehören unter anderem die USA, Japan, China, Deutschland, die EU, Russland, Indien, Indonesien, die Türkei, Saudi-Arabien, Südafrika, Brasilien und Argentinien. Den Startschuss der neuen Kooperation gaben sie 2008 beim Gipfel in Washington, um schnell auf die globale Finanzkrise zu reagieren. Die Regierungen der alten, westlichen Industrieländer hatten zuvor eingesehen, dass sie alleine nicht mehr aus dem Schlamassel herauskämen.

Seitdem wurden einige mehr oder weniger erfolgreiche gemeinsame Versuche unternommen, das weltweite Finanzsystem zu stabilisieren und neu zu regulieren. Trotzdem schreibt Bremmer, Chef des Politikberatungsfirma Eurasia Group, dass die G 20 nicht funktioniere. Woran sich das zeige? Zum Beispiel verweist der Autor auf die Weltklimakonferenz von Kopenhagen 2009, die keinen Durchbruch für ein neues globales Abkommen zur Reduzierung der Treibhausgase schaffte. Der Gipfel, so Bremmer, sei gescheitert, weil „kein einzelnes Land und kein Block von Ländern genug Macht besaß, eine Lösung zu erzwingen“.

Als weiteren Beleg für seinen Befund analysiert er den Aufstieg neuer Mächte wie China, Brasilien, Türkei und Iran. Und er beschreibt die Abkehr von einer weltumspannenden Freihandelspolitik, wie sie in den Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO zum Ausdruck kam. Diese sind mittlerweile blockiert. Weil ihre Durchsetzungsfähigkeit für einen Kompromiss nicht mehr ausreiche, suche die US-Regierung nun Zuflucht in der einfacheren Variante bilateraler Verträge wie etwa dem angestrebten Freihandelsabkommen mit Europa.

Die Gründe für den abnehmenden Einfluss der USA sieht Bremmer nicht zuletzt in der zunehmenden Stärke der Konkurrenten. Der amerikanische Anteil an der Weltwirtschaftsleistung geht etwa permanent zurück. Bald könnte China die Wirtschaftsmacht Nummer eins sein. Hinzu kommen innere Probleme der USA wie die wirtschaftliche Instabilität, die Abnutzung des Versprechens vom sozialen Aufstieg, die gegenseitige Blockade der Parteien und die limitierte Finanzkraft der Regierung. Diese führe schließlich dazu, dass die USA nicht mehr jeden Krieg führen könnten, den sie sonst vielleicht geführt hätten.

Bei alldem ist zu bedenken: Bremmer schreibt aus der Perspektive des global denkenden Politologen, des Großanalysten. Ihn interessieren Mächte, Systeme und deren Wechselwirkungen. Die Bürger, die die Folgen aushalten müssen, kommen bei ihm kaum vor. Er teilt nichts darüber mit, ob die Einwohner der vom Westen unterstützten lateinamerikanischen, europäischen oder arabischen Militärdiktaturen des 20. Jahrhunderts die frühere US-amerikanische Dominanz hilfreich fanden.

Und vielleicht leben heute sehr viele Menschen gar nicht schlechter als zu Zeiten, da das amerikanische System noch größere Macht ausübte. Jetzt stellt sich aus Bremmers Sicht die Sache jedenfalls so dar: Seine alten Aufgaben zu bewältigen sei Amerika „zunehmend unwillig und unfähig. Zur gleichen Zeit sind die aufstrebenden Mächte noch nicht bereit, seine Rolle zu übernehmen, weil ihre Regierungen sich darauf konzentrieren müssen, die nächsten kritischen Stadien ihrer eigenen wirtschaftlichen Entwicklung zu managen.“ Das Ergebnis: „Verantwortungsscheu ist der Kern der G 0.“

Dieser Aspekt des Buches ist innovativ – ansonsten ist Bremmer nicht der Erste, der den Übergang von der bipolaren Welt der beiden Supermächte USA und Sowjetunion zur multipolaren Konstellation des 21. Jahrhunderts reflektiert. Weltpolitische Enthaltsamkeit stellt Bremmer nicht nur bei China fest, sondern auch im Falle der Europäischen Union. Zwar habe der Alte Kontinent durchaus die Chance, auch später noch ein Wörtchen mitzureden: „Mit ihren mehr als 500 Millionen Staatsbürgern in 27 Ländern beherbergt die EU die größte Mittelschicht der Welt und ist die friedlichste und wohlhabendste Region der Erde.“

Aber gegenwärtig einige sich die Gemeinschaft viel zu selten auf eine gemeinsame Linie – auch im Hinblick auf militärische Interventionen. Deshalb habe Europa, so Bremmer, nicht genug Einfluss, um die G 20 in eine Richtung voranzubringen. Was das wohl für Syrien bedeutet? Die deutschen Raketen bleiben auf ihren Abschussrampen. Eine Intervention des Westens, die die Lage in Syrien zugunsten der Widerstandskämpfer entscheiden könnte, ist aber vorläufig nicht abzusehen.

■ Ian Bremmer: „Machtvakuum. Gewinner und Verlierer in einer Welt ohne Führung“. Hanser Verlag, München 2013, 224 Seiten, 15,99 Euro