Mordende und fickende Kämpfer

THEATER In Hannover erlebt „Soldaten“ nach den Protokollen von Harald Welzer und Sönke Neitzel eine gute, verstörende Bühnenpremiere mit beeindruckendem Laborsetting

Das waren noch Zeiten, als wir mal eben zum Spaß mit dem MG polnische Zivilisten niedergemäht haben. Und am Gardasee war es auch wirklich schön

VON ALEXANDER KOHLMANN

Es mutet ein bisschen pervers an, dieses Menschenlabor, das Bühnenbildner Dirk Thiele für den Premierenabend „Soldaten“ auf die Cumberlandsche Bühne im Schauspiel Hannover gebaut hat. In fünf Brutkästen liegen sauber gewaschen und nur mit frischen Unterhosen bekleidet die Versuchsobjekte. Fünf Soldaten des Dritten Reichs, deren Gesinnung hier unter kalten Neonröhren erforscht werden soll. Dass wir ihnen aus dem Zuschauerraum zusehen, wissen sie nicht, eine Art unsichtbare Spiegelwand trennt die Zuschauer von dem Gefühls-Labor.

Aus allen Referenzrahmen rausgerissen, müssen sich die fünf Kriegsgefangenen zunächst orientieren: Wo sind wir und was passiert mit uns? Emotional sind sie noch ganz in dem Feldzug verhaftet, an dem sie – so ist zu erfahren – durchaus mit Freude teilgenommen haben. Das waren noch Zeiten, als wir mal eben zum Spaß mit dem MG polnische Zivilisten niedergemäht haben.

Wichtiger noch als das gedankenlose Töten sind die Gespräche über die Frauen, denn die hier Eingekerkerten sind weit herumgekommen, weiter als sie es sich je erträumten. Vor dem Eiffelturm gibt es Fotos, am Gardasee war es wirklich schön. Überhaupt Italien, mitten im Krieg, „als in Deutschland kein Taxi mehr fuhr“, welch ein wunderbares Privileg.

Die Banalität der Erinnerungen erschreckt, auch den Laborleiter (Oscar Olivo). Vor dem kleinen Offizier einer fremden Macht nehmen die Jungs Haltung an, wenn er das Labor inspiziert. Wonach er sucht? Jedenfalls nach tiefergehenden Motiven, Antworten, ideologischen Überzeugungen. Nach anderen Persönlichkeiten als diesen Jungs, die mit Politik so gar nichts zu tun haben.

Warum hassen uns alle?

Und denen dennoch dämmert, dass Deutschland vor der Geschichte mit den Taten, an denen sie beteiligt waren, nicht einfach so davonkommen wird. Nachdem sie sich in ihren Brutkästen mit Uniformen und Stahlhelm in die Wehrmachtssoldaten, die sie noch bis vor Kurzem waren, zurückverwandelt haben, kommen nicht nur die gute Erinnerungen an Sexabenteuer im Ausland und lustige Rundfunk-Wunschkonzerte zurück. Warum hassen uns eigentlich alle – das ist die bange Frage.

Die Antwort dämmert den Laborobjekten nur langsam. Jeder der fünf wusste von den Grausamkeiten, jeder kann Geschichten erzählen von endlosen Massenerschießungen. Am Anfang waren das nur die „Schweine von der SS“, doch im vermeintlich vertrauten Zweiergespräch gestehen sie es sich dann doch, jeder der harmlosen Jungs hat geschossen, getötet bis zum Säugling. Fiese Erinnerungen, die doch im neuen Referenzrahmen Labor schnell verblassen. Wie das funktioniert, ergründet der diabolische Laborleiter mit einem einfachen Experiment: Raus aus den Uniformen, ab in die Dusche.

Als die beiden im Anzug, frisch rasiert zurückkommen, sind sie keine Soldaten mehr. Im gepflegten Gespräch gelangen sie zu der Einsicht: Kein Wunder, dass uns keiner mehr mag.

Regisseur Thomas Dannemann gelingt das Kunststück, dem faszinierenden Quellenmaterial noch eine eindringliche Theaterebene hinzuzufügen. Statt sich aus Respekt vor dem Material auf eine konzertante Lesung zurückzuziehen, erzählt er mit seinem Laborsetting eine eigene und in sich schlüssige Geschichte. Sie bezieht sich auf die Forschungsergebnisse des Militärhistorikers Sönke Neitzel und des Soziologen Harald Welzer, deren aus etwa 150.000 Abhörprotokollen entstandenen „Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ 2011 im S. Fischer Verlag erschienen.

Dannemann zeigt Soldaten, die aus ihrem Referenzrahmen Krieg herausgehoben und in diesen gläsernen Kästen abgelegt worden sind. Die alte Anpassung weicht schrittweise der neuen Wirklichkeit – bis die einst mordenden und fickenden Kämpfer frisch gestriegelt entlassen werden.

Die moralischen Werte und das Verhalten sind keine Frage der Persönlichkeit, sondern der sozialen Umgebung, wäre das beunruhigende Ergebnis des Projekts, das Soldaten des NS-Deutschland als idealtypisches Beispiel untersucht.