Literaturfestival in Berlin: Auratische Pilgerfahrt

John M. Coetzee gastiert in Berlin. Es ist interessant, die virtuose Prosa des südafrikanischen Nobelpreisträgers live zu erleben.

Keine Diskussion, keine Fragen, nichts: J. M. Coetzee. Bild: reuters

Volles Haus, gespannte Erwartungen. J. M. Coetzee, der Weltstar der Literatur, Autor kanonischer Bücher wie „Warten auf die Barbaren“ und „Schande“, trat am Montag beim Berliner Literaturfestival auf – wahrscheinlich die einzige Möglichkeit im Leben, den 1940 geborenen Südafrikaner, der mit öffentlichen Auftritten so scheu ist wie eine Gazelle, live zu sehen.

Zehn Jahre habe man für diesen Moment gearbeitet, sagte Ulrich Schreiber, der Festivalchef. Nun war er da. Aber dass Coetzee im Haus der Berliner Festspiele „aufgetreten“ wäre, kann man nicht sagen. Es wurde ein Auftritt, der versuchte, alles Auftritthafte wegzulassen.

„Es ist mir eine große Freude, in Berlin zu sein“, sagte Coetzee, dezenter Anzug, weißes Hemd, unbewegte Miene, auf Deutsch. Dann ging’s schon los. Gelesen wurde aus dem neuem Roman „Die Kindheit Jesu“, in dem ein alter Mann in einem fiktiven spanischsprechenden Land eine Mutter für den ihm zugelaufenen fünfjährigen Jungen namens David sucht.

Schauspieler Frank Arnold, neben Coetzee an einem schlichten Tisch auf der großen Bühne sitzend, las aus der deutschen Übersetzung. Er tat es konzentriert, mit aller Kunst. Die vielen Stimmlagen dieser auf den ersten Blick so einfachen Prosa arbeitete er heraus. Die Dialoge klangen geradezu dramatisch.

Der Universalschlüssel fehlt!

Den tiefen Witz solcher Sätze wie „Wenn wir einen llave universal hätten, wären alle unsere Probleme gelöst“ ließ er aufblitzen; tatsächlich, das Schwierige am Menschsein besteht darin, dass es keinen Universalschlüssel für Probleme gibt.

Und als David an einer Stelle „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind …“ singt, ließ Arnold die Gesangsstimme eines Kindes anklingen.

Ganz toll war das. Auf ganz hohem Niveau könnte man nur meckern, dass der Vortrag allerdings auch etwas Schauspielerhaftes hatte. Aber das fiel einem nur auf, weil dann Coetzee selbst im Kontrast dazu zu hören war. Er las aus dem englischen Original.

Seine Stimme ist hoch und sanft. Ganz gelegentlich verfiel er in einen Märchenonkelton. Meistens machte er es aber genau anders als Frank Arnold. Er las keine Szenen, sondern Text, Wort für Wort. Man hatte den Eindruck, als würde einem ein Maler seine Strichführung demonstrieren.

Mann, Frau, Hof, Kälte

Davon angeleitet, achtete man darauf, wie diese Prosa gemacht ist. Zum Beispiel die Stelle, an der der Mann, der mit David im Hof schlafen muss, wegen der Kälte eine Frau, die aus einem Fenster sieht, bittet, im Haus schlafen zu dürfen (Mann, Frau, Hof, Kälte, wie so oft bei Coetzee haben die Szenen etwas Archaisches, als ob Kernsituationen des Menschseins verhandelt würden):

„Es entsteht eine lange Pause. Dann: ’Warten Sie‘, sagte sie.

Er wartet. Dann: ’Hier‘, sagt ihre Stimme.

Es fällt ihm etwas vor die Füße – eine Decke, nicht allzu groß, vierfach zusammengelegt, aus irgendeinem groben Stoff, nach Kampfer riechend.“

Ganz schlicht, aber auch: Wie genau! Das doppelte „dann“ dehnt die Zeit. Meisterlich aber vor allem, dass der Mann nicht gleich sieht, dass es eine Decke ist, die da herunterfällt. Er sieht zunächst nur ein Fallen. Erst Bruchteile später registriert er die Details. Ein schönes Beispiel für Coetzees Fähigkeit, Szenen aufscheinen lassen zu können.

Aber die Zurückhaltung Coetzees, der an diesem Abend wie sein eigener Stellvertreter wirkte, hatte noch einen anderen Aspekt. Schüchternheit? Dienst an der Sache? Doch irgendwo Schrulligkeit? Man war sich nicht sicher, wie man diese offensive Zurückhaltung nun werten soll.

Heiliger Ernst wehte einem von der Bühne entgegen. Man fühlte sich wie zu einer auratischen Pilgerfahrt gedrängt. Die unternahm man gerne, weil der Text so gut ist. Aber das Gedrängtwerden nahm man auch wahr.

Nach der Lesung keine Diskussion, keine Fragen, nichts. J. M. Coetzee setzt, als er fertig ist, eine Pause. Dann sagt er: „Vielen Dank“. Das war’s. Applaus. Aufstehen, Abgang.

Wenig später sah man ihn im ersten Stock des Gebäudes auratisch und ernst an einem Holztisch sitzen, vor sich eine unendlich lange Schlange von Menschen, die ihm seine Bücher hinhielten. Zum Signieren hat er sich also überreden lassen. Er lächelte nicht. Niemand sagte zu ihm ein Wort. Der Roman übrigens, die Übersetzung erscheint Ende Oktober, ist ganz großartig.

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