Das Jahr der großen Verstörung

ROAD NOVEL „Das Ungeheuer“: Die Schriftstellerin Terézia Mora schreibt einen wunderbaren Roman über einen verlorenen Helden – den IT-Fachmann Darius Kopp

VON ULRICH RÜDENAUER

Darius Kopp ist nicht unbedingt mit bemerkenswerten Talenten gesegnet. Eines aber zeichnet ihn schon aus: Er ist ein Stehaufmännchen, ein bisschen unbedarft, ein bisschen behäbig, ein Vertreter der Start-up-Generation, der fest an die Segnungen der neuen digitalen Welt glaubt, selbst als seine New-Economy-Träume mehrfach in sich zusammenpurzeln. Immer wieder kämpft er sich tapfer durch die allgegenwärtigen Krisen. Dabei bemerkt er nicht, wie er sich in einem Hamsterrad dreht.

Bereits im letzten Roman von Terézia Mora, die 1971 im ungarischen Sopron geboren wurde und eine der spannendsten Autorinnen ihrer Generation ist, haben wir den ostdeutschen IT-Fachmann Kopp kennengelernt. 2009 erschien dieses Buch, in dem Kopp – „einziger Mann auf dem Kontinent“ einer amerikanischen Firma für drahtlose Netzwerke – nach und nach seiner Angestelltenexistenz verlustig geht. Man ahnt in diesem Roman von Anfang an, dass ihn die Wirtschaftskrise am Schlafittchen packen wird – auch er spürt es, will es aber lange nicht einsehen und sucht überall nach Anhaltspunkten für seine Unersetzlichkeit. Nur Flora, seine Frau, die aus Ungarn stammt, als Übersetzerin scheitert und als Kellnerin jobbt, kann ein wenig Stabilität schaffen. Ein Satz bringt die Lage von Darius Kopp auf den Punkt, und auch die des kriselnden Systems: „Für etwa eine Minute war Kopp außerstande, mehr von der Welt zu begreifen, als was er von ihr unmittelbar erfuhr.“

Was Darius Kopp in Moras letztem Roman zu erleiden hatte, ist allerdings ein Pappenstiel gegen den Schlag, der ihn nun niederstreckt. „Das Ungeheuer“ beginnt mit der Schilderung eines Beischlafs, und diese Zeilen sind wortwörtlich aus dem vorangegangenen Buch übernommen. Jetzt aber enden sie abrupt und erweisen sich als Phantasma – eine Erinnerung, die Vergegenwärtigung eines Glücks, das unwiderruflich zerstört ist. Darius Kopp nämlich ist zum Witwer geworden, seine Frau hat sich umgebracht, und im Alter von 46 Jahren erwischt ihn „doch noch die Einsamkeit“.

Wie es dazu kam, wird in lakonischem Ton in Rückblenden erzählt, zwischen die Verzweiflung dieses arbeitslosen, verstörten Mannes geschoben. Seine Frau Flora hatte sich, nachdem sowohl sie als auch Darius ihre Jobs verloren, aufs Land geflüchtet, in die Datsche einer Freundin. Sie hat sich geweigert, zurück in die Stadt zu kommen, nach Berlin, in die gemeinsame Wohnung. Sie blieb dort im Herbst und im Winter, und im Frühling ist sie gestorben, das heißt: Sie hat sich erhängt. Drei Tage vor ihrem 38. Geburtstag wird Flora im Wald gefunden. Für Darius ist das der Beginn eines Alptraums.

Auf ihrem Computer entdeckt er Dateien, Aufzeichnungen in ungarischer Sprache, die er übersetzen lässt. Als er sie liest, muss er feststellen, dass Flora ein Parallelleben geführt hatte. „Dass meine Frau, die die ganze Zeit so tat, als hätte sie mit ihrer Herkunft abgeschlossen, die nie ein Wort ungarisch sprach, alles, was sich in diesem Laptop befand, auf ungarisch verfasst hat. Wie kann sie sagen, die Vergangenheit ist die Vergangenheit, und dann die ganze Zeit ein geheimes Leben mit dieser Sprache führen? Eine Affäre. Als hätte sie mich die ganze Zeit belogen. Wozu heiratet so jemand.“

Terézia Mora lässt uns diese Aufzeichnungen Floras ebenfalls lesen. Sie sind in den Roman an mehreren Stellen eingeschoben, unter dem Strich einer durchgängig zweigeteilten Seite, Nachrichten schon aus einer Unterwelt, die dumpf ans Koppsche Ohr dringen – oben die Geschichte des haltlosen Darius, unten das nachgelassene Tagebuch von Flora. Diese strikte Trennung markiert die Grenze zwischen dem, was zwei Menschen, die sich so nah wähnten, voneinander wissen können und was für immer in ihrem Innern verborgen bleibt – Diesseits und Jenseits sind klar geschieden. Flora erzählt in den Notizen von ihrer Jugend, dem Aufbruch nach Berlin, den Zurückweisungen und Niederlagen, von flüchtigen Affären und von Demütigungen, dem fortwährenden Kampf gegen die Depression und von der Übermacht dieser Krankheit, die wie ein Ungeheuer alle Glücksmöglichkeiten auffrisst. Darius reist, mit dem Tagebuch und seiner Erinnerung im Gepäck, nach Ungarn. Er möchte das Dorf kennenlernen, aus dem seine Frau stammt, er will etwas entdecken, das mit ihr zu tun hat, er möchte sie wiederfinden. Die Reise wird zu einer Odyssee, zu einer Pilgerfahrt, vielleicht auch zu einer Reise ans Ende der Nacht. Darius kommt sich dabei immer mehr abhanden – je weiter er sich entfernt, desto schmerzhafter werden die Erinnerungen.

Es ist eine Zumutung, von Anfang an eine Demütigung, diese Reise. Aber in die tragischen mischt Mora immer wieder komische Momente. Darius Kopp gelangt weiter in den Osten, von Ungarn geht es bis nach Armenien. Und schließlich auch noch ins krisengebeutelte Griechenland. Im Kofferraum die Asche seiner toten Frau. „Das Ungeheuer“ ist eine Road Novel, die wie jede gute Road Novel natürlich auch etwas Erkenntnisstiftendes hat: Darius lernt unterwegs nämlich Menschen kennen, die es gut mit ihm meinen. Unerwartete Helferfiguren sind das, Wiedergängerinnen von Flora, Herumtreiber und offenherzige Gastgeber, die ihm und seinem Leid für Momente Asyl gewähren. Diese Reise mit ihren Verwirrungen und Krankheiten hat auch etwas Kathartisches. Die Katharsis aber verlangt nach äußerster Schmach: Darius Kopp liegt am Ende am Boden, inmitten des Chaos’ einer anderen Krise, einer Demonstration auf den Straßen Athens, die vielleicht mehr mit seinem Leben zu tun hat, als er ahnt. „Da konnte er nicht anders, er musste lachen. Er war beiseite gekrochen, lehnte jetzt mit dem Rücken an einer bepissten Hauswand, im unterirdischen Gestank, und lachte.“

Darius Kopp macht eine existenzielle Erfahrung. Das ist kein Spiel mehr, kein Computerprogramm, das sich einfach umschreiben ließe. Mora schickt ihren trauernden Totenreichfahrer an den Rand seiner selbst, mithin an den Rand Europas. Und gesteht ihm ein Jahr der Verzweiflung, aber vielleicht auch der Wiedergeburt zu. Wenn man auf der letzten Seite dieses wunderbaren Romans über einen Verlorenen angekommen ist, ahnt man, dass Mora mit ihrer eigentlich gar nicht heldenhaften Figur noch immer nicht zu Ende ist. Aus dem mediokernen Darius Kopp ist ein vom Schmerz geformter Charakter geworden. Man möchte unbedingt wissen, welche Krise – also welches Leben – ihn als nächstes erwarten wird.

Terézia Mora: „Das Ungeheuer“. Luchterhand, München 2013. 683 Seiten, 22,99 Euro