WARUM ES IN ORDNUNG IST, DASS KINDER SMARTPHONES HABEN
: Nico mit dem Narbengesicht

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Per WhatsApp ging in Niedersachsen eine Art Kettenbrief herum. „Hi, ich bin Nico und neun Jahre alt und habe keine Hände und mein Gesicht ist voller Narben und Blut.“ Nico hat aber neben dem Gesicht voller Narben und Blut noch ganz andere Probleme. Es hapert mit der deutschen Sprache. Zitat: „Aber naja, ich brachte sie um und keiner hat sie nie mehr gesehen.“ Oder: „Ein Kind hat ein Beweis, er wollte es nicht weiterschicken. Fünf Jahre später wurde seine Mutter ermordet.“

Man weiß nicht genau, wieso erst fünf Jahre später, denn das jeweilige Kind soll ja eigentlich schon um null Uhr des selben Tages, an dem es die Nachricht erhalten und nicht an zwanzig Leute weiterverteilt hat, von ‚Nico mit Narben und Blut‘ getötet werden. Da kann ihm das mit der Mutter in fünf Jahren auch egal sein, aber um Logik geht es ja nicht. Es geht um Angst.

Eine Bedrohung, die von jemand Unbekanntem ausgeht, ist oft angsteinflößender, als wenn sie von jemand Bekanntem ausgeht und das Perfide an so einer Nachricht ist, dass Kinder ihr Handy als Zuhause empfinden, und wer dort eindringt, dringt in ihr Kinderzimmer ein.

Nun kommen in den Kommentaren der Tageszeitungen die ganzen klugen Menschen, die sich insgeheim freuen, weil sie es immer schon wussten, dass Kinder keine Smartphones brauchen, dass deshalb die Eltern im Grunde Schuld sind, weil sie sie einerseits materiell damit verwöhnen und andererseits zeitlich vernachlässigen. Die Leute gehen in ihre eigene Kindheit zurück und – man stelle sich vor – da gab es noch keine Smartphones und deshalb sind die Leute damals viel besser groß geworden, haben noch richtig (!) gespielt und waren auch nicht so verzogen.

Gut. Na klar. In meiner Kindheit gab es auch keine Smartphones. Wir hatten noch nicht mal ein Radio und auch keinen Fernseher. Ich gehöre aber nicht zu den Leuten, die behaupten, dass die Zeit irgendwie besser für Kinder gewesen sei, als heute. Denn die neun Jahre alten ‚Nicos ohne Hände und mit dem Gesicht voller Narben und Blut‘, die gab es auch damals schon. Die drohten schon immer. Die gab es als Kettenbrief, die gab es auf dem Heimweg, die gab es als Angst und als Bedrohung, real oder unreal.

Ich will gar nicht autobiografisch genauer werden, aber jeder, der ehrlich ist mit sich und seiner Kindheit, der weiß das. Jede Zeit hält ihre Schrecklichkeiten für Kinder bereit. Nur stand man dem zu meiner Zeit blinder gegenüber. Was ein Kind sagte, hatte nicht den Wert, wie das, was ein Erwachsener sagte. Nur so konnten die ganzen Mißbräuche in den Bildungs- und kirchlichen Einrichtungen geschehen. Weil Kinder nicht gestärkt waren, weil sie keine Stimme hatten. Vielleicht waren sie bescheidener, aber glücklicher waren sie nicht.

Diese Mär entsprießt der Verklärung, in die alle diejenigen sich eingehüllt haben, die mit ihren Lebenslügen ins Grab steigen wollen.

Ich habe Kinder. Sie haben alles, was die meisten anderen Kinder auch haben. Smartphones, Computer, etc. Das nervt. Das macht Probleme, aber das ist in Ordnung. Sie chatten und sie skypen, sie machen Musik und sie entwerfen Kunstwerke, sie spielen Spiele und ja, das ist alles ganz anders als früher. Aber es ist nicht krank und es führt auch nicht zur Verwahrlosung. Zur Verwahrlosung führt mangelnde Liebe und fehlende Aufmerksamkeit.

Meine Kinder haben gelacht, als ich ihnen die WhatsApp-Nachricht vorgespielt habe. Vielleicht hätten sie nicht gelacht, wenn sie sie unvorbereitet bekommen hätten. Wir müssen alles im Auge behalten und alles besprechen, was uns bedrückt, ohne Scham und ohne Übertreibung. Das ist der einzige Schutz. Aber wir sollten den Kindern nicht weismachen, dass ihre Welt so viel schlechter sei, als es unsere war. Denn das könnte sie wirklich bedrücken und es wäre eine Lüge.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen.