Cruising in „Der Fremde am See“: Wer hat Angst vorm Wels?

Wer sich hingibt in der Liebe, gibt seine Grenzen auf. Davon erzählt Alain Guiraudies Spielfilm „Der Fremde am See“ - sonnig, körperlich und unheimlich.

Selbstpreisgabe ist lustvoll, die Bilder dazu abgründig und körperlich in: „Der Fremde am See“. Bild: dpa

Vielleicht gibt es ein Ungeheuer. Einen Wels, der auf dem Boden des Sees lauert. Vielleicht ist er fünf Meter lang. Oder zehn. Franck (Pierre Deladonchamp) glaubt das nicht: „Das ist doch Blödsinn.“ Henri (Patrick dAssumçao) ist sich nicht so sicher.

Die beiden Männer lernen sich in Alain Guiraudies Film „Der Fremde am See“ zu Anfang kennen und schließen Freundschaft. Franck ist jung und attraktiv, er kommt zum Cruisen an den See; Henri ist eher füllig, etwas älter, er trägt klobige Sandalen und T-Shirts, die über dem Bauch spannen. Bislang habe er immer am anderen Ufer gesessen, erzählt er, da, wo die Familien sind. Aber seine Freundin habe sich von ihm getrennt, jetzt habe er Ferien und sitze gerne hier.

Etwa 50 Meter entfernt von seiner Lieblingsstelle treffen sich schwule Männer, um sich zu sonnen, zu schwimmen und zu flirten. Regelmäßig verschwinden sie in dem Wäldchen, das zwischen dem Strand und dem Parkplatz liegt, haben Sex oder beobachten die anderen dabei. Guiraudie hat dabei keine Scheu vor den expliziten Momenten. Man hat nicht den Eindruck, dass er mit den Bildern von Erektionen, Blowjobs und Analverkehr schockieren oder provozieren wollte.

„Der Fremde am See“. Regie: Alain Guiraudie. Mit Pierre Deladonchamp, Patrick d‘Assumçao u. a. Frankreich 2013, 97 Min.

Eher schaut er so neugierig hin, weil Sexualität eine Form von Kommunikation, von menschlicher Begegnung ist, die es verdient, in all ihren Formen und Nuancen erforscht zu werden. Und so behände wie Guiraudie die Topografie seines Films ausmisst, den Parkplatz, das Wäldchen, den Strand, das Wasser, Henris favorisierte Stelle, so behände filmt er die Körper der cruisenden Männer.

Ein Reigen des Wohlgefallens

„Der Fremde am See“ hat viel von einem Reigen sanft-sommerlichen Wohlgefallens: Das Sonnenlicht bricht sich auf der Wasseroberfläche, der Wind zaust an den Baumkronen, Vögel zwitschern, Kieselsteine knirschen unter den Schritten, in der Dämmerung schwinden die scharfen Konturen aller Gegenstände, und die Kamera schaut sich all dies mit gleich bleibendem Interesse und in verlässlich sich wiederholenden Einstellungen an.

Aber die Idylle trügt, das lässt Henris und Francks Gespräch über den Wels, diese vieldeutige Kreatur, ahnen. Michel (Christophe Paou) ein gut aussehender, draufgängerischer Typ, wird zur Attraktion der Cruising-Zone; er sieht aus wie ein Wiedergänger Tom Sellecks. Franck ist nicht der Einzige, der auf ihn abfährt, und das ändert sich auch dann nicht, als er eines Abends beobachtet, wie Michel seinen Geliebten unter Wasser drückt, bis der nicht mehr auftaucht.

Lust und Furcht

Spätestens in dieser Szene, die die Kamerafrau Claire Mathon aus der Distanz heraus filmt, fährt in die sanfte Bukolik des Films etwas hinein, was düster ist, etwas, was aus einer alten Fabel zu stammen scheint, aus einer jener wuchtigen Erzählungen, mit denen sich Menschen über nicht lösbare, existenzielle Verunsicherungen hinweghelfen. Die Soziologin Eva Illouz hat einmal notiert, Sexualität sei unter anderem deshalb eine beunruhigende Sache, weil sie ein Moment des Selbstverlusts umfasst.

Wer sich hingibt, verliert sich, gibt seine Grenzen auf, hört auf, ein klar umrissenes Ich zu sein. Diese Selbstpreisgabe ist lustvoll, aber sie flößt auch Furcht ein. Guiraudie findet dafür Bilder, die unbeschwert wirken, aber abgründig sind und zugleich zu körperlich bleiben, als dass sie sich durch Interpretation zähmen ließen.

“Der Fremde am See“ zählte im Mai beim Festival von Cannes zu den großen Überraschungen. Als er im Juni in Frankreich in die Kinos kam, bewarben ihn bunte, im Stil naiver Malerei gehaltene Plakate, der Künstler Tom de Pékin zeichnete für sie verantwortlich. Im Vordergrund küsst sich ein Männerpaar, im Hintergrund ist der Strand zu sehen, darauf Männer, die sich sonnen, und weit hinten, eher hingetupft denn ausgemalt, ein Paar, das etwas tut, was man als Oralsex werten kann. In den Gemeinden Versailles und Saint-Cloud, beide wohlhabend, beide von Bürgermeistern, die der konservativen UMP angehören, regiert, wurden die Plakate entfernt. Hat etwa jemand Angst vorm Zehn-Meter-Wels?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.