„Streunende Tiere fahren allein U-Bahn“

LEBENSRÄUME Mit seinem Buch „Tiere in der Stadt“ hat sich der Biologe Bernhard Kegel eine Expertenposition zum Thema Stadtfauna erschrieben. Ein Gespräch über das Gemendel der Amseln, Füchse im Park und Schwierigkeiten beim Halten von Bienenstöcken in der Stadt

■ geboren 1953, ist promovierter Biologe, Jazzmusiker und seit den neunziger Jahren im Hauptberuf Schriftsteller. Er schreibt Sachbücher und Romane (u. a. „Das Ölschieferskelett“, 1996), in denen er naturwissenschaftliche Zusammenhänge aufgreift. Sein erster Roman „Wenzels Pilz“ (1993) beschäftigte sich mit den Folgen der Freisetzung von genmanipulierten Pflanzen.

■ Das Buch: „Tiere in der Stadt. Eine Naturgeschichte“. Dumont Verlag, Köln 2013, 477 S. 22 Euro

INTERVIEW KATHARINA GRANZIN

taz: Herr Kegel, Sie leiten Ihr Buch damit ein, dass überall auf der Welt auch größere wilde Säugetiere in die Städte einwandern. Was bei uns der Fuchs ist, ist in Bangkok der Waran oder in US-Städten der Kojote. Ist es eine globale Entwicklung, dass der Mensch seinen Lebensraum mit größeren Tieren teilen muss?

Bernhard Kegel: Ja, das würde ich sagen. Es liegt daran, dass Städte heutzutage so beschaffen sind, dass Tiere überhaupt in ihnen leben können. In einer Zeit, wo es keine Parks gab und die Friedhöfe außerhalb der Stadtmauern lagen, war es einfach nicht möglich.

Für Tiere scheint das Stadtleben die Möglichkeit für einen Imagewechsel zu bieten. Zumindest was den Fuchs betrifft?

Absolut. Beim Fuchs bin ich hundertprozentig davon überzeugt, dass die Nähe zum Menschen dazu geführt hat. In England hat man das gut beobachten können. Dort sind Füchse schon etliche Jahre früher in die Städte gekommen als bei uns. In England war der Fuchs vorher ein Tier, das man auf dem Land praktisch für alles verantwortlich gemacht hat. Aber auf dem Land gibt es auch kaum Kontakt zwischen Füchsen und Menschen, man sieht die Tiere nur sehr selten. Als sie dann in die Städte zogen und es zu Begegnungen zwischen Mensch und Fuchs kam, hat sich dieses Image rasant gewandelt. Vor Jahren gab es in England eine Umfrage, bei der man den Fuchs zum beliebtesten Wildtier des Landes gewählt hat. Das wäre ein paar Jahrzehnte zuvor undenkbar gewesen.

Nach wie vor hat es etwas Unheimliches, wenn einem in der Stadt ein Fuchs über den Weg läuft. Dagegen wirken streunende Hunde eher vertraut, obwohl die Gefahr, von ihnen gebissen zu werden, um ein Vielfaches größer ist.

Ja. Gemessen an solchen Beißunfällen sind streunende Hunde mit Abstand das gefährlichste Stadttier. Bei uns gibt sie es ja praktisch nicht, in Süd- oder Osteuropa sind sie weit verbreitet, auch in den USA. In Moskau fahren streunende Hunde sogar allein U-Bahn, und niemand nimmt es ihnen übel. Als ein russisches Model an einer U-Bahn-Station einen streunenden Hund erstochen hat, der sie und ihren Schoßhund bedroht hat, weil er sich als Platzhirsch beweisen musste, ging danach nicht etwa eine Diskussion los, wie man diese Hunde beseitigt. Sondern man hat die Frau verklagt. Sie musste sich sogar einer psychotherapeutischen Behandlung unterziehen.

Im Zusammenleben mit den Menschen ergeben sich für viele Tiere ganz neue Bedingungen. Wie Sie schreiben, leben Füchse in der Stadt auch im Familienverband, im Unterschied zum Land, wo sie Einzelgänger bleiben. Außerdem spricht man mittlerweile auch bei Tieren von Gründerpersönlichkeiten, von bestimmten Tierpersönlichkeiten, die als Pioniere vorangehen und als Erste in eine neue Lebensumwelt ziehen.

Das mit den Tierpersönlichkeiten fand ich bei meinen Recherchen am faszinierendsten, und dass man jetzt gewillt ist, Wildtieren überhaupt Persönlichkeit zuzubilligen. Jeder Haustierbesitzer wird schmunzeln, aber in der Wissenschaft braucht man eben belastbare Ergebnisse, die solche Hypothesen stützen.

Hat das, langfristig gesehen, nicht auch genetische beziehungsweise evolutionsbiologische Auswirkungen, so dass irgendwann neue städtische Arten entstehen könnten?

Was die Artenbildung betrifft, so findet man bei kleinen Tieren tatsächlich Prozesse, die in diese Richtung gehen. Es gibt zum Beispiel Mückenarten, die nur in U-Bahn-Schächten leben. Die Londoner haben damit unliebsame Bekanntschaft gemacht, als sie vor deutschen Bombenangriffen in die Tunnel geflüchtet sind. Solche U-Bahn-Mücken sind inzwischen auch in Chicago und New York entdeckt worden. Man fasst sie teilweise schon als eigene Unterarten auf. Oberirdisch ist das mit der Artenbildung schwieriger, weil die Tiere dort mobiler sind. Aber wenn man sich fragt, welche Tiere Kandidaten dafür wären, dann kommt man tatsächlich auf die Amsel.

Warum?

Städtische Amseln unterscheiden sich heute schon in vielen Verhaltensaspekten ihrer Biologie von den Waldamseln, die sie ursprünglich einmal waren. Waldamseln gibt es ja nach wie vor; Stadt- und Waldtiere kommen aber immer weniger miteinander in Kontakt. Der Austausch reicht allerdings, dass der Artbildungsprozess nicht wirklich schnell stattfindet, möglicherweise wird er dadurch auch gerade so noch verhindert.

Wie lange läuft denn dieser Prozess schon? Wann kam die Amsel in die Städte?

Vor ungefähr 200 Jahren. Man hat übrigens, wenn man sich die Ausbreitung der Amseln ansieht, das Gefühl, dass sie sich von Süddeutschland aus in den verschiedensten Städten angesiedelt haben. Aber nachdem man genetische Untersuchungen durchgeführt hat, musste man feststellen, dass dem gar nicht so war. Die Amseln in den Städten sind immer am nächsten verwandt mit den Amseln, die in der Umgebung der jeweiligen Stadt leben. Das heißt, dieser Prozess hat überall ganz unabhängig stattgefunden. Das ist zunächst verblüffend und muss etwas damit zu tun haben, dass die Städte überall einen ähnlichen Zustand erreicht hatten, der es den Amseln ermöglichte, dort zu leben.

Aber dann ist es ja wirklich schwierig, von einer Artenbildung zu sprechen.

Das stimmt. Hamburger Amseln und Berliner Amseln mendeln ganz unabhängig voneinander vor sich hin. Dann hätten wir, wenn man ganz verrückt denkt, irgendwann nicht eine urbane Art, sondern viele. Viele Forscher halten das auch für Quatsch und meinen, es würde nie so weit kommen, denn dazu seien Vögel einfach zu mobil. Aber andere sagen wiederum, wenn überhaupt ein Vogel diesen Weg beschreitet, dann ist die Amsel auf jeden Fall ganz weit vorn.

Ihr Buch beschäftigt sich nicht nur mit niedlichen Vögeln und Füchsen, sondern zu einem nicht unbeträchtlichen Teil mit Parasiten. Auch die Hausfauna hat sich ja im Laufe der Zeit stark gewandelt. Mit Flöhen und Bettwanzen haben wir heutzutage vergleichsweise wenig Probleme …

Oh, die Bettwanze erlebt gerade eine echte Renaissance! Das hängt mit der Globalisierung zusammen und hat nichts mit Hygiene zu tun, sondern kommt in den nobelsten Häusern vor. Auch die Deutsche Bundesbahn hat schon mehrere ihrer Schlafwagen aus dem Verkehr ziehen müssen. Aber dass es insgesamt weniger von dieser kleinen Hausfauna gibt, liegt in erster Linie daran, dass wir Staubsauger haben.

Übrigens erinnere ich mich aus meiner Kindheit nicht daran, dass es früher Lebensmittelmotten gegeben hätte. Warum sind sie heute so eine Plage?

Bei vielen Schädlingen handelt es sich um eingeschleppte Arten. Wie das mit der Lebensmittelmotte ist, weiß ich nicht. Bei mir kommt sie immer mit dem Biomüsli ins Haus, weil Biogetreide einfach nicht entsprechend behandelt wird. Aber bei der Kleidermotte weiß man, dass sie wahrscheinlich aus Afrika stammt. Viele dieser Arten leben schon so lange hier, dass man gar nicht weiß, wo die ursprünglich einmal herkamen. Es gibt Spinnenarten, die wirklich nur in Häusern leben. Und niemand weiß, wo sie ursprünglich mal im Freiland existiert haben.

Unter den Insekten gibt es zunehmend solche, die von Menschen erst in die Stadt gebracht werden. Sie schreiben, die domestizierten Bienen würden die in der Stadt lebenden Wildbienen verdrängen. Wo leben die Wildbienen und warum werden sie verdrängt?

Es gibt eine sehr große Vielfalt, mehr als hundert Arten. Sie leben in Mauerritzen und im Holz, bauen im Boden ihre Nester, ganz unterschiedlich, je nach Art. Es ist nicht das Problem, dass sie keinen Ort zum Leben fänden, sondern dass es einen Konkurrenten gibt, der in viel größerer Zahl den Nektarvorrat der Pflanzen für sich nutzt. Wildbienen leben einzeln oder in einer Art Wohngemeinschaft, und sie haben keinen so großen Aktionsradius. Wenn dann zu Tausenden Honigbienen ausschwärmen, die auch noch durch Schwänzeltänze ihre Artgenossen zu besonders ergiebigen Nahrungsquellen führen, dann geraten die Wildbienen ins Hintertreffen. Allerdings ist das etwas, das man zwar liest, aber mir ist keine Untersuchung bekannt, die das wirklich schwarz auf weiß nachweist. Das müsste man sich sicher mal genauer angucken.

Darf und soll man denn jetzt Honigbienen in der Stadt halten oder nicht?

Es kommt darauf an, was man möchte. Möchte man die biologische Vielfalt der Stadt optimieren, dann ist es nicht richtig – oder dann müsste man es begrenzen.

Und was ist besser: Eine Baumscheibe zu pflegen, indem man sie mit Ringelblumen bepflanzt? Oder sich dort eine spontane Vegetation entwickeln lassen?

Schwierige Frage. Ich finde, es gibt gute Argumente für beides. Wenn man nur die Vielfalt der Stadtnatur im Auge hätte, dann wäre es tatsächlich besser, man würde solche Flächen einfach sich selbst überlassen. Die Vielfalt, die auf Brachflächen entsteht, ist wertvoller für das ökologische Ganze, als Pflanzen anzubauen, die im Gartencenter gekauft wurden und sowieso schon zu Millionen in der Stadt wachsen. Aber was ich gut finde, und was sich ja darin ausdrückt, ist ein zunehmendes Interesse und Engagement aller Bürger für ihre Stadt und ihr Lebensumfeld. Urban Gardening würde da mit reinfallen, dazu gehört auch die Haltung von Bienen in der Stadt. Ich sehe diese Entwicklung mit einem lachenden und einem weinenden Auge.