Der Schatten trocknender Wäsche

PHILIPPINISCHER FILM Am Montag gibt es im Kino Arsenal mit „Norte, hangganan ng kasaysayan“ die seltene Gelegenheit, ein Werk des Regisseurs Lav Diaz zu sehen

Diaz gelingt das, was Paul Schrader in seinem berühmten Essay über den transzendentalen Stil einmal als „Stasis“ bezeichnete – Konflikte werden ohne falsche Besänftigung verhandelt

VON CRISTINA NORD

Der Filmemacher Lav Diaz ist bekannt dafür, in vielstündigen, schwarz-weißen Filmen Geschichte und Gegenwart der Philippinen zu erforschen; Arbeiten wie „Evolution of a Filipino Family“ (2004), „Heremias“ (2006) oder „Melancholia“ (2008) kreisen um Klassengegensätze, Armut, politische Verfolgung und das Ausgeliefertsein derer, die von Macht und Wohlstand ausgeschlossen sind. Die große Bedeutung, die der 54 Jahre alte Regisseur im Weltkino eingenommen hat, steht in keinem Verhältnis zu den extrem seltenen Gelegenheiten, seine Filme im Kino zu sehen.

Eine dieser Gelegenheiten bietet sich am Montag. Im Kino Arsenal hat Diaz’ jüngster Film „Norte, hangganan ng kasaysayan“ („Norte, the End of History“) Premiere. Er dauert für seine Verhältnisse vergleichsweise kurze 250 Minuten, ist in Farbe gedreht und lehnt sich lose an Motive aus Dostojewskis „Schuld und Sühne“ an.

Ein Strang des Films folgt einem jungen Mann namens Fabian (Sid Lucero), der sein Jurastudium hinschmeißt, vor seinen Freunden zynische Reden über das Ende der Geschichte hält und ständig in Geldnot ist.

Der zweite Strang kreist um die Familie von Eliza (Angela Bayani) und Joaquín (Archie Alemania), die in bescheidenen Verhältnissen lebt; Joaquín hat eine Verletzung am Bein, die ihn hindert zu arbeiten; der Besuch bei der Geldverleiherin gehört für die beiden zum Alltag. Die Geldverleiherin wiederum bildet das Scharnier zwischen den beiden Strängen. Als sie ermordet wird, wird Joaquín, obwohl er die Tat nicht begangen hat, zu lebenslanger Haft verurteilt.

Diaz filmt oft aus der Distanz. Wenn Fabian seine nihilistischen Predigten hält, sind fünf Figuren im Bild zu sehen und um sie herum noch Landschaft oder Gebäude; einmal etwa steht die Clique auf einer Anhöhe über einem Fluss, und während Fabian auf die Unzulänglichkeiten der Justiz schimpft, quert ein Kanu gemächlich den Bildhintergrund. Vieles geschieht ohnehin hinter einer Sichtbarriere im Bild oder gleich im Off. Wenn etwa im Gefängnis ein Mann vergewaltigt wird, sieht man das nicht, sondern hört es nur, während sieben, acht Häftlinge sich an das Gitter ihrer Zelle drängen. Sie sehen, was der Kinozuschauer nur hört, und das heißt auch: Es gibt ein Außen, etwas, was jenseits unserer Wahrnehmung liegt. Die Welt ist größer als die Leinwand.

Dazu passen die langsamen Schwenks, mit denen der Kameramann Lauro Rene Manda gerne arbeitet. Es sind elegante Kamerabewegungen, die den jeweiligen Schauplatz erkunden. Indem sie gleitend die Perspektive wechseln, holen sie Gegenstände ins Bild, die eben noch nicht zu sehen waren. Man wird erneut des Umstands gewahr, dass jenseits des Bildrands die Welt nicht aufhört.

Zudem verleiht die Langsamkeit der Kamerabewegungen dem Film eine große Ruhe. „Norte“ verliert diese Ruhe auch dann nicht, wenn sich die Ereignisse zuspitzen. Der Rhythmus, in dem die kontemplativeren Sequenzen von einzelnen handlungsreichen Szenen durchbrochen werden, ist virtuos gesetzt.

Indem Diaz seine Plots nicht auf 90 Minuten staucht, sondern auf mehrere Stunden ausdehnt, nähert er sich dem, was Paul Schrader in seinem berühmten Essay über den transzendentalen Stil einmal als „Stasis“ beschrieben hat.

Wenn Konflikte zu hart erscheinen, als dass sie gelöst werden könnten, stellt das Filmemacher vor dramaturgische Probleme. Sie können dann entweder den Ausweg des Happy Ends wählen, zahlen dafür aber den Preis billiger Beschwichtigung, oder aber sie neigen dazu, dem Publikum das Elend der Figuren aufzudrängen.

„Stasis“ beschreibt etwas jenseits dieser beiden unseligen Optionen: den Versuch, nicht zu lösende Konflikte ohne falsche Besänftigungen zu verhandeln. Diaz gelingt dies zum Beispiel, weil er viele Einstellungen von narrativen Funktionen befreit. Man sieht dann Ziegen am Wegrand oder den Schattenwurf von zum Trocknen aufgehängter Wäsche auf einer Gefängniswand.

Interessant zu beobachten ist, wie die Figuren Sprachen mischen: Die Jurastudenten und -professoren reden gerne in einer Mischung aus Englisch und Tagalog, also der auf den Philippinen verbreitetsten Sprache, miteinander. Immer mal wieder hört man im Tagalog spanische Einsprengsel (die Philippinen waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine spanische Kolonie), stößt man auf spanische Namen, oder die Figuren sagen pero oder preso.

In einer Szene sieht man, wie Eliza Joaquíns Anwalt aufsucht, damit er Berufung einlegt. Der Anwalt – offenbar ein Pflichtverteidiger – erklärt in einem langen Monolog, dass die Frist verstrichen sei und sich nichts mehr machen lasse. Er spricht Englisch und wirft mit Begriffen wie appeal und statutory period um sich. Irgendwann sagt Eliza: „Ich verstehe kein Englisch.“ Danach sinkt sie auf ihrem Stuhl noch ein Stück mehr in sich zusammen.

■ „Norte, hangganan ng kasaysayan“ („Norte, the End of History“). Regie: Lav Diaz. Mit Archie Alemania, Sid Lucero u. a. Philippinen 2013, 250 Minuten. Am 7. 10. um 19.30 Uhr im Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, Mitte