Schlusspunkt Ruhrtriennale: Ein magisches Geflecht

Die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker lotete mit „Vortex Temporum“ auf der Ruhrtriennale in Bochum einen Seitenweg der Avantgarde aus.

Grade in der Absichtslosigkeit gelingt der Choreograhie „Vortex Temporum“ so etwas wie Transzendenz. Bild: Anne van Aerschot

Wie tanzt man ein Crescendo? Ist es überhaupt möglich, Musik, diese ungreifbarste aller Künste, sichtbar zu machen? Diesen Fragen geht Anne Teresa De Keersmaeker in ihrer jüngsten Choreografie „Vortex Temporum“ nach, die in der Bochumer Jahrhunderthalle als letzte Uraufführung dieser Ruhrtriennale-Spielzeit am Samstag zur Premiere kam.

Eine knappe Stunde dauert De Keersmaekers radikales Experiment, während der man meint, eine Stecknadel fallen hören zu können. Die Halle 4 in der Bochumer Jahrhunderthalle ist öde und leer. Als hätte jemand mit einem riesigen Zirkel experimentiert, überschneiden sich auf dem Boden wie mit spröder Kreide gezeichnete Kreise, die später zu den Flugbahnen der Tänzer werden. Nüchterne Arbeitsbeleuchtung taucht die Bühne in fahles, manchmal fast ganz verlöschendes Licht. Eine karge, aus der Welt gefallene Szenerie, ein grauer Ort ohne Farben, wie ein nächtlich betriebenes Labor.

De Keersmaeker ist berüchtigt für ihren analytischen Umgang mit der Musik und für ihre Begabung, diese in tänzerische Phrasierungen umzusetzen. Diesmal hat sie sich für ein Grenzwerk der Neuen Musik entschieden: „Vortex Temporum“ – was so viel heißt wie „Zeitstrudel“ –, das Vermächtnis des 1998 verstorbenen französischen Komponisten Gérard Grisey. Das mystische Kammermusik-Stück für Klavier, Flöte, Klarinette, Cello, Violine und Viola ist ein herausragendes Beispiel für sogenannte Spektralmusik, einen französischen Seitenweg der Avantgarde, der sich von seriellen Techniken und der Atonalität abwandte, um sich ganz der Modifikation des Klangs, seinen Obertönen und der Erforschung des Hörerlebnisses zu verschreiben.

„Vortex Temporum“ ist ein Gipfelwerk dieses Kompositionsprinzips mit ungeheuer komplexen Klangteppichen, die mit Viertelton-Verschiebungen arbeiten und sich zu großer harmonischer Dichte steigern, die weit mehr hören lässt als nur sechs Instrumente. Dann wieder zerfallen die Klänge zu Geräuschen, gehen zurück ins kaum Hörbare, um sich dann mit hämmernden, oft asymmetrischen Ostinati der narkotisierenden Wirkung von Minimal Music anzunähern. Kurzum: Musik, die höchste Aufmerksamkeit fordert und einen rätselhaften Sog ausübt.

Die gestische Präsenz der Musiker

Die ersten Minuten überlässt De Keersmaeker dann auch allein dem belgischen Neue-Musik-Ensemble Ictus und dessen atemberaubend souveräner und in ihrer gestischen Präsenz fast schon selbst tänzerischen Ausführung von Griseys spröder Musik. Dann erst positionieren sich die sieben Tänzer der Kompanie Rosas da, wo vorher die Musiker spielten.

Ohne Musik entwickeln sich erste Bewegungen, die bei De Keersmaeker mehr aus Alltagsbewegungen als aus Tanzgesten abgeleitet sind. Es ist, als würden die Tänzer den gerade gehörten ersten Satz von Griseys mal eruptiver, mal an der Grenze zum Stillstand verharrender Musik nachbilden. Dann kommen die Musiker zurück und nun fließen Musik und Tanz zusammen in ein geradezu magisches Geflecht unlösbarer Konstellationen.

Der Entstehung zuschauen

Vorsichtig sind die ersten Annäherungen, tastend und fast unsicher. Doch dann kommt es zu Paar- und Clusterbildungen zwischen den Tänzern und den Musikern, die ganz selbstverständlich zum Teil der hoch präzisen, dabei doch in ihrer scheinbaren Absichtslosigkeit wie improvisiert wirkenden Choreografie werden. Alle Akteure reagieren mit höchster Sensibilität aufeinander, so dass man irgendwann nicht mehr weiß, ob nun die Musiker die Tänzer in zunehmend entfesselte Bewegung bringen oder die motorische Dynamik der Tänzer die Musik hervorbringt.

So entsteht der faszinierende Eindruck einer Gleichzeitigkeit, als würde man der Musik bei ihrer Entstehung zuschauen und ihrem Wesen als ephemere Kunst auf die Spur kommen.

Und zwar in diesem Fall eben ganz und gar absoluter Musik, die nicht mehr sein will als Klang und Rhythmus und sich darin selbst genügt. Und die Tänzer reagieren darauf mit purer Bewegung, die wiederum nicht mehr sein will als eben Bewegung und Dynamik und gerade in dieser Reinheit und Absichtslosigkeit tatsächlich so etwas wie Transzendenz erzeugt. De Keersmaeker erzählt keine Geschichte, das Geschehen auf der Bühne bleibt völlig abstrakt und wirkt dennoch unmittelbar.

Die Tänzer äußern weder Befindlichkeiten noch Gefühle, wirken fast abweisend und sind doch jeder für sich höchst individuell präsent. Am Schluss verebben Musik und Bewegung und verlöschen wie das Licht. Es folgt eine lange Stille, bevor sehr zögerlich der Applaus einsetzt. Viel weiter kann man wohl nicht mehr gehen in der tänzerischen Erforschung der Musik.

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