Experimente in der Kathedrale

UNSOUND-FESTIVAL Hier kommen unbekannte Künstler, Stars, elektronische Musik und der Charme des Ostblocks zur Deckung: Vergangene Woche stand Krakau zum zehnten Mal im Zeichen von Synthesizern und Synthetisierungen

Aus Begeisterung für die polnische Underground-Szene während des Sozialismus entwarf Mat Schulz die Idee des Unsound-Festivals

VON SOPHIE JUNG

„The Killing“ sagt der Musiker ins Mikro und zieht den Kopf ruckartig weg – wie ein spastisches Zucken und zeitgleich fährt eine Soundwand auf die Zuschauer ein, ein wahnsinniges Wummern und elektronisches Kreischen, dass die Kronleuchter klirren. Ja, Kronleuchter, Holzvertäfelung und ein Teppichboden in spacigem Sternenmuster dekorieren diesen Raum, die ehemalige Aula des Hotel Forum in Krakau. Ursprünglich sollten hier die Kader des sozialistischen Polens dinieren und Genossinnen und Genossen zum Tanzen auffordern, wenn sie sich denn von der Minigolfanlage im Untergeschoss hätten trennen können. Doch das Hotel Forum in Krakau – 1977 wurde der Bau begonnen, 1989 fertiggestellt – hat diese glücklichen Tage nie erlebt.

An diesem Abend peitscht die kalifornische Band Clippling ihren Wahnsinn aus Noise, HipHop und abrupten Brüchen in dieses leer stehende Relikt einer Utopie aus Beton. Danach wird Mikki Bianco die Bühne besteigen und mit ihrer queeren Performance den Chauvinismus von HipHop unterwandern. Das deutsche Technoduo Porter Ricks, der kalifornische Hauntology-Produzent James Ferraro, die Hamburger DJane Helena Hauff – insgesamt 48 Acts aus der tanzbaren und experimentellen elektronischen Musik werden das Hotel Forum innerhalb von einer Woche bespielen.

Die Störung ist Programm

Seit 2003 präsentiert das Festival Unsound in Krakau zeitgenössische Avantgarde-Musik. Experimentalsounds, Drone, Clubmusik, Noise und Pop verteilen sich eine Woche lang über die Stadt. Unter dem übergreifenden Thema „Interference“, zu Deutsch „Überschneidung“, aber auch „Störung“ oder „Behinderung“, ist das diesjährige Festivalprogramm gestaltet worden.

Es geht um Sphären, akustische, räumliche, aber auch soziale, kulturelle und historische Sphären, die sich in der Festivalwoche miteinander verweben sollten. Wie im Hotel Forum, in dem die Vergangenheit an allen Details, an den massiven Betonstelzen des Baus, an der Typografie des Wortes „recepcja“ (Rezeption) festhält und zugleich Tausende internationale Besucher der „order is negative – chaos is positive“-Message von Underground Resistance aus Detroit huldigen.

Normen sollten gebrochen werden, das Alltägliche und Selbstverständliche hinterfragt werden. Nach diesem Prinzip stellten die Festivalmacher Mat Schulz und Gosia Plysa das künstlerische Programm zusammen. Rund um Burg und Kathedrale verstreuten sie Kunst, Diskussionsveranstaltungen und vor allem Soundinstallationen in der historischen Architektur der Stadt. Der US-Komponist, Performer und Künstler Charlemagne Palestine, der mit Traditionen jüdischer Musik experimentiert, trat in einer Kirche aus dem 14. Jahrhundert auf.

Mit einem lang anhaltenden Orgeldrone, kleinen Bläsereinlagen und Gesang im indonesischen Javastil ließ er die hochgestreckte, filigrane Gotik der Katharinenkirche zu einem Träger seiner multifolkloristischen und gleichsam gewitzten Idee von Andersartigkeit werden. In einer Synagoge, so gab der Musiker jüdischer Abstammung später im Gespräch zu, hätte er niemals spielen können. Wahrlich zu unorthodox sei seine musikalische Attitüde.

Im Kijow Cinema, auch dies ein herausragendes Beispiel einer architektonischen Ostmoderne, wird das Kino neu interpretiert. Abstrakte Videoprojektionen von Lucy Benson und Marcel Weber werden zum visuellen Träger für Sounds von Robert Henke, Keith Fullerton Whitman und Roly Porter.

Kosmopolitismus zum Frühstück

Das Narodowy-Stary-Theater aus dem späten 18. Jahrhundert bot die Kulisse für die Neuinterpretation einer Strawinsky Oper. Und für Dean Blunt, dem heimlichen Star des Festivals, dessen minimalistisch konzipiertes Konzert restlos ausverkauft war. Eine Synagoge im jüdischen Viertel Kazimierz – einst ein großes jüdisches Zentrum in Osteuropa, heute lediglich eine Touristenkulisse mit Cafébars – wurde zu einem akustischen Experimentierraum für Kwadrofonic und Stefan Wesolowski.

Krakau ist international. In Bars redet man bei einem letzten Schnaps zum Morgengrauen von ausländischen Studenten und Expats. EU-Erweiterung, Wirtschaftswachstum und Universität haben die einstige Krönungsstadt der polnischen Könige zu einem anglophon-anmutenden Kosmopolitismus überführt. Wie in Brooklyn lässt man sich in Kazimierz morgens ein Egg Benedikt und einen Öko-Espresso vom geschulten Barista servieren.

Ein Australier hat’s erfunden

Auch Mat Schulz ist ein Zugezogener. Sehr früh, 1995, emigrierte der Australier nach Krakau – aus Begeisterung für die polnische Underground-Szene während des Sozialismus entwarf er die Idee des Unsound-Festivals. Verlegt in die Zeit nach der Wende wollte er mit dem Festival immer noch für das Nichtetablierte, für Sounds des Anderen und Untergrundideen eintreten. Und es scheint, dass diese Nische gefüllt werden musste.

Bei der ersten Ausgabe des Unsound 2003 zog der Betreiber eines Clubs beim Konzert von Kammerflimmer Kollektiv noch während des Auftritts die Kabel aus der Anlage – zu experimentell waren ihm die Klangexperimente der deutschen Band. Zehn Jahre später ist Mat Schulz’ Unsound-Festival mit seinem diversen Avantgarde-Programmen fest im Krakauer Kulturleben etabliert. Das Publikum fliegt inzwischen aus ganz Europa ein.

Für eine musikalische Verbindung von Osteuropa und den Westen setzt sich Schulz immer noch ein. Vor allem polnische Independent-Labels nutzen Unsound als Plattform. In einem mittelalterlichen Kellergewölbe in der Altstadt surren eine Woche lang die Sounds von Mik Musik oder Sangoplasmo.

Das Festival weitet sich aus, 2010 wurde Unsound erstmals in New York veranstaltet, dieses Jahr zeichnet Unsound auch für Festivalprogramme in London und im australischen Adelaide mitverantwortlich.

Ableger in Weißrussland

Ein Unsound-Festival im östlichen Nachbarland Weißrussland aber, das ist nach wie vor ein kulturpolitisches Wagnis. Wie sich die Zuschauer am Samstag für Pete Swansons Altar aus Kabeln und Reglern, aus dem schwerrhythmisches Dröhnen strömte, begeisterten, das wäre in Minsk bereits als eine politische Demonstration gelesen worden. 2009 konnte Mat Schulz dort ein Unsound-Festival ausrichten und unterstützt seitdem in Kollaboration mit anderen Kulturinstituten aktiv Avantgarde-Konzerte in Weißrussland.

In seinem vehementen Eintreten für unbekannte Künstler, Abweichungen von der Norm und echten Untergrund hatte und hat das Unsound immer eine politische Dimension. Konkrete politische Auseinandersetzung wurde während des Festivals im Begleitprogramm gefordert. In Kunstinstallationen von Audint und Richard Mosse wird der Zusammenhang von Krieg und Klang thematisiert, in Panels spricht man über die Perspektiven im Underground Ost und dessen Rolle im Diskurs. Auf eine sanfte und doch kraftvolle Weise wies schließlich eine Kunstinstallation in der New Roman Gallery auf unsere sozialen Verhältnisse hin.

Abseits der Krakauer Altstadt werden Festivalbesucher auf die andere Weichselseite in einen verkommenen Altbau gelotst. Geistig behinderte Musiker der Band Tralala Blip haben hier eine Video- und Soundarbeit gestaltet. Weit entfernt von Wirtschaftswachstum, kosmopolitischem New Krakow und dem Retrocharme des Hotels Forum eröffnen sie an diesem verlassenen Ort ihre eigenen Fantasien über das, was für sie „Interference“ bedeutet.