In keineswegs spiritueller Mission

KINO Versagende Männer, sprachlose Zivilgesellschaft, schöne Bilder: das Filmfestival „Molodist“ in Kiew, Ukraine

VON BERT REBHANDL

Ein ungebetener Gast sitzt bei Tisch. Er isst schnaufend mit den Händen, zwischendurch greift er gierig zum Wein. „Etwas Härteres konnte ich nicht finden.“ Er ist wohl an die Getränke gewöhnt, mit denen Männer in der Ukraine einander beweisen, was sie vertragen. Hier aber muss er Madeirawein von der Krim trinken. Er ist eigens hierhergefahren, um Martha aufzusuchen, eine Frau Ende dreißig, die das einsame Haus auf der Halbinsel im Schwarzen Meer auch deswegen gewählt hat, weil sie vor Männern wie diesem ihre Ruhe haben wollte.

Die Szene aus dem Film „Such Beautiful People“ von Dmytro Moyseyev findet später eine interessante Entsprechung. Denn Martha trifft schließlich einen Mann, mit dem sie ihr Vertrauen wiederfindet: Ivan, einen ruhigen Wanderer aus dem westukrainischen Iwano-Frankiwsk.

Aber auch er hat so seine Probleme. Eines Tages verlässt er das Haus am Meer und zieht sich in seine Welt zurück. Es ist eine Welt der künstlerischen Boheme, was konkret nicht viel mehr bedeutet, als dass seine Freunde schon morgens trinken. Es ist auch eine Welt des Selbstmitleids. Ivan hat vor Jahren ein bedeutendes Buch geschrieben, danach nichts mehr. Über sein Scheitern kommt er nicht hinweg. Ivan ist ein loser, ein Verlierer. Für einen Moment sieht es so aus, als wäre das fast noch schlimmer als ein Gangster.

Das Filmfestival „Molodist“, das am Wochenende in Kiew zu Ende ging, hat internationale und nationale Sektionen. Für einen Besucher aus Deutschland wie mich boten die nationalen Sektionen einen willkommenen Anlass, ein wenig genauer auf die Produktion dieses im Weltkino bisher kaum verzeichneten Landes zu schauen. Und auch die politische Situation gibt Anlass zu diesem Interesse.

Die Ukraine steht kurz davor, ein Abkommen zu unterzeichnen, das sie enger an die EU binden wird. Das riesige Land am westlichen Ende der ehemaligen Sowjetunion würde damit auch ein wenig aus dem Schatten Russlands treten. Doch sind die Probleme enorm: Von einer funktionierenden Institutionalität kann keine Rede sein, die Ukraine ist ein failing state. Mit wem immer man ins Gespräch kommt, man bekommt vor allem Resignation zu hören. Nicht die Politiker sind das Problem, so der Tenor, sondern die Leute. Es ist, als hätte die Zivilgesellschaft im Jahr 2004 mit den Protesten auf dem Maidanplatz ihre Karte ausgespielt und dafür eine Faust ins Gesicht bekommen.

Der Film „Such Beautiful People“ zeigt eine Reaktion auf die Lage: innere Emigration oder Exil in den wunderbaren Landschaften, die das Land hat. Und er zeigt eine Konstellation, die auch in anderen Filmen erkennbar wird: Es sind die Männer, deren Versagen nicht aufzuwiegen ist. Fast durchweg, ob das nun eine Dokumentation über „Bankomat-Mutter“ („Zhinka-Bankomat“) oder eine schwarze Komödie wie „Wochenende mit einer Exfrau“ ist, wird deutlich, dass zwischen den Geschlechtern etwas im Argen liegt. Unter dem Stichwort der „Bankomat-Mutter“ wird das Arbeitsexil verhandelt, in das sich viele Frauen aus der Ukraine begeben. Sie gehen nach Italien, putzen dort Wohnungen, pflegen alte Menschen und versuchen, mit ihrem abgelaufenen Touristenvisum in keine Personenkontrolle zu geraten. Den größten Teil ihres Verdiensts schicken sie zurück in die Heimat. Und so sieht man in Akim Galimovs Reportagefilm schön hergerichtete Häuser in entlegenen Dörfern. Und man sieht junge Leute, die mit grotesk wirkenden Statussymbolen und Konsumgütern über die Abwesenheit der Mutter hinweggetröstet werden. Väter tauchen nicht auf, es sind rein weibliche Versorgungszusammenhänge, die hier erkennbar werden (abgesehen von einem weinerlichen Trinker, der vergeblich darauf wartet, dass seine Exfrau ihn nach Westeuropa holt). Die Bankomat-Frauen haben aber Söhne, und mit einem endet der Film: Der Blick dieses Ruslan, dessen Mutter Tetiana in Rom schuftet, ist in eine Zukunft gerichtet, in der er wird beweisen müssen, ob das Anspruchsdenken, zu dem er erzogen wird, mit seinen Leistungen in Einklang zu bringen ist.

Die interessanteste Männerrolle gab es in Damir Ienalievs „Wochenende mit einer Exfrau“ zu sehen. Denn hier ist das Selbstmitleid nur ein Durchgangsstadium, eine Reaktion auf die Ohnmacht, die ein junger Mann namens Vlad (Yuriy Sak hat das Starpotenzial eines Guy Pearce) erlebt. Seine Frau hat ihn verlassen, um sich einen Oligarchen zu suchen. Nun bringt Vlad seine Nächte damit zu, sich vollzusaufen, und junge Frauen beim Telefonsex zu verunsichern. Er möchte nicht, dass sie ihm eindeutige Szenen suggerieren, sondern dass sie ihm von ihrer Kindheit erzählen.

Vlad ist einer dieser melancholischen, ungekämmten Einzelgänger, die im Grunde ein Stereotyp aus der Werbung sind (seine Alkoholexzesse konnten dem durchtrainierten Körper noch nichts anhaben). Aber er ist eben auch das Opfer einer Gesellschaft, in der es äußerst unfaire Wettbewerbsvorteile gibt.

Und so wird Vlad zu einer perfekten Identifikationsfigur in einer Intrige, in der Damir Ienaliev nicht nur zwei Vertreter der gesetzlosen Elite demütigt, sondern auch das märchenhafte Ende par excellence herbeizaubert: Seine Frau kehrt zurück zu Vlad in seine bescheidene Wohnung, in der sie beim (natürlich unvergleichlich leidenschaftlichen) Sex gelegentlich von einer Küchenschabe gestört wurden.

Ein Bett im Schwarzgeld

In „Wochenende mit einer Exfrau“ hält das ukrainische Kino eine Hierarchie gegen eine andere: Die eine ist die derer, die sich alles kaufen können (und die dadurch auch zumindest für eine Weile verführerisch wirken). Die andere ist die einer „spirituellen Mission“, wie Vlad sie mit treuherzigem Blick (und schneidender Selbstironie) vertritt. Oben und unten vermitteln sich über die schöne Frau, die sich hier für das Herz entscheidet, aber auch sicherstellt, dass das Glück mit Vlad auf einen Haufen Schwarzgeld gebettet ist.

Ein Vierteljahrhundert ist es nun bald her, dass die Sowjetunion und damit auch das sowjetische Kino zerfiel. Die früheren Republiken haben das Vakuum ganz unterschiedlich gefüllt: Kasachstan, ein despotisch regierter Staat, hat exzellente Filmemacher, die auf Weltniveau die brutalen Verhältnisse im Land registrieren. Russland selbst boomt künstlerisch ohnehin.

Die Ukraine hingegen ist zerrissen zwischen staatlichem Dirigismus und (film)wirtschaftlichen Hoffnungen. Die Ambivalenz war sogar schon in einer kleinen Rede erkennbar, die Katerina Kopylova, die Vorsitzende der State Film Agency, beim Molodist Festival hielt. Sie sprach so, als wäre die Behörde die relevante Instanz statt der Talente, die auf die Vermittlungsarbeit der Behörde angewiesen sind. „By order of the State Film Agency of Ukraine“ stand dann auch im Abspann von „Such Beautiful People“, was sicher nicht in einem autoritären Sinn gemeint ist, aber doch als ein kleines Signal auf die Kräfteverhältnisse verweist, mit denen das Kino in der Ukraine leben muss.

Wie es anders geht, zeigte ein Beitrag aus Polen, in dem auch staatliches Geld steckt, das allerdings einer Nationalkinematografie dient, die nicht existiert: Ein Produzent schrieb in einem sozialen Netzwerk eine Nachricht an einen weißrussischen Blogger, und daraus entstand schließlich „Viva Belarus“ von Krzysztof Lukaszewicz, ein aufwühlendes Drama um einen jungen Mann in dem Land, das von dem Diktator Lukaschenko in einem quasisowjetischen Zustand festgehalten wird. Miron wird zur Armee eingezogen, nachdem er für Freiheit demonstriert hatte. Die unmenschlichen Verhältnisse in den Kasernen dokumentiert er mit Berichten, die seine Freundin ins Netz stellt. In „Viva Belarus“ wird der Preis der Zivilcourage schmerzhaft deutlich; es wird aber auch anschaulich, dass Filme ein Mittel der Demokratie sein können.

Die Ukraine wirkt, auch in ihrer Filmproduktion, manchmal wie ein Land, das die demokratischen Mühen, wirtschaftlichen Hoffnungen und künstlerischen Freiheiten erst aufeinander abstimmen muss. Dabei lässt gerade ein Festival wie „Molodist“, das in seiner Programmierung auch auf die geostrategisch bedeutsame Position des Landes zwischen Russland und dem Westen eingeht, erkennen, dass das Potenzial enorm ist. Es muss ja nicht gleich alles eine „spirituelle Mission“ sein.