Ohrfeigen bis ins Badezimmer

TANZGESCHICHTE Mit der Kamera hat sie sich selbst beobachtet: Tanja Liedtke, Choreografin. Jetzt erinnert der Film „Tanja – Life in Movement“ an die früh verstorbene junge Künstlerin

Als Dreijährige wollte sie eine Blume werden. Später sah Tanja Liedtke in einer Schulaufführung den Blumenwalzer und wusste: mit Tanz, da ist was möglich. Davon erzählt der jetzt im Kino gestartete Film „Tanja – Life in Movement“. Ihre Vorpremiere feierte die Dokumentation im Radialsystem und kehrte somit an den Ort zurück, an welchem Tanja Liedtkes Ensemble 2009 seine Welttournee beendete. Mit den Aufführungen von „Twelfth Floor“ und „construct“ widmeten die Tänzer ihrer Choreografin eine Hommage: Denn Tanja Liedtke starb zwei Jahre zuvor mit nur 29 Jahren in Sydney, nachdem sie von einem Müllwagen angefahren wurde.

Der Film von Bryan Mason und Sophie Hyde schaut auf das künstlerische Schaffen der deutschen Choreografin und erwähnt am Rande, wie schwierig freie Produktionen zu finanzieren sind. Liedtkes erste lange Choreografie, „Twelfth Floor“, erzählt von einem erzwungenen Leben mehrerer Menschen im selben Raum. „Escape“ steht mit Kreide auf einer Bank geschrieben. Tanja wollte alles Erlebte in ihre Arbeit stecken, sagt ihr Lebensgefährte Solon Ulbrich in der Dokumentation.

Man lernt sie in diesem Film als Perfektionistin kennen, mit größten Ansprüchen an ihre eigene Person. Geboren 1977 in Stuttgart, lernte sie Ballett und Modern Dance in Madrid und London. Später arbeitete sie im Australischen Tanz Theater, bei DV8 in London und mit ihrem eigenen Ensemble in Australien, Brasilien und England. Ihr letztes Stück „construct“ erzählt davon, wie wir unsere Leben bauen und zusammenfügen. Sie selbst stand darin in London mit auf der Bühne.

Kurz zuvor hatte sie erfahren, dass ihre Bewerbung um die Stelle der künstlerischen Leitung der Sydney Dance Company erfolgreich war. Neben den üblichen Erzählungen, Erinnerungen und Aufnahmen aus den Proben des Ensemble, sind immer wieder sehr intime Aufnahmen aus dem Privatarchiv von Tanja Liedtke zu sehen. Da beginnt man zu ahnen, wie sie Gefühle und Erfahrungen für ihre Arbeit produktiv machen wollte. In diesen Szenen schaltet sie selbst die Kamera ein und läuft schnell zurück, bis ihr ganzer Körper zu sehen ist. Sie redet über ihre Erfahrung, eine Woche ganz allein im Studio zu verbringen. In einer Nahaufnahme ohrfeigt sie ihr eigenes Gesicht und wiederholt zwischen Schluchzen immer wieder „Reiß dich zusammen“. Als sie ihre Fassung wiederhat, geht ihr Blick sicher in die Kamera. Schnitt.

Liedtkes Bruder erzählt von den Zweifeln, die auch seine erfolgreiche Schwester durchlebte. Man kommt ihr unglaublich nah, bis in ein Badezimmer, in dem sie tanzt. In alten Aufnahmen trägt die Jugendliche eine Zahnspange und verkleidet sich mit einer blonden Perücke.

Nicht zuletzt dank dieses Materials schafft die Dokumentation den Spagat zwischen persönlichen Momenten und der tänzerischen Arbeit Tanja Liedtkes.

Nach ihrem Tod haben die Mitglieder ihres Ensembles Schwierigkeiten, ohne sie weiterzuarbeiten. Die Stimme von außen, welche alles zusammenfügt, fehlt. Im Film wird deutlich, dass es für den Umgang mit Verlust keine Choreografie und für die Trauer keinen Ort, sondern Schichten gibt. MAREEN LEDEBUR

■ „Tanja – Life in Movement“, in den Kinos Bali, Eiszeit, Eva-Lichtspiele, Lichtblick