DAS EINWANDERUNGS- UND ASYLRECHT ALS UNABSCHLIESSBAREN PROZESS DENKEN
: Der poetische Akt der Gastfreundschaft

VON ARAM LINTZEL

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Die Forderungen nach einer transparenten Einwanderungspolitik und nach Abschaffung der Drittstaatenregelung etc. sind natürlich richtig. Trotzdem kommt es einem manchmal zynisch vor, sich angesichts des Todes von Hunderten auf pragmatische Diskussionen über die Möglichkeiten der Aufnahme einzulassen. Ist die einzige würdige Reaktion auf die Ereignisse vor Lampedusa nicht die bedingungslose Forderung nach unbedingter Gastfreundschaft?

In den neunziger Jahren hat der 2004 verstorbene französische Philosoph Jacques Derrida diesen Topos in Seminaren, Büchern und Interviews diskutiert. In klassisch-griechischen und biblischen Texten entdeckte er die Idee einer unbedingten Gastfreundschaft, die über allen ethischen Verpflichtungen steht. Sie verlange, „jedem Ankömmling eine bedingungslose Aufnahme zu gewähren“. Für Derrida ist die Gastfreundschaft mehr als ein Thema unter anderen, sie ist „die Kultur selbst“. Kultur zeichnet sich dadurch aus, ob und wie sie sich für Fremdes und Anderes öffnet. Eine Kultur, die sich abschottet, ist keine.

Wer vom ganz Anderen und radikal Fremden heimgesucht wird, wird damit konfrontiert, dass er nicht Herr im eigenen Haus ist. Er verlässt seine egozentrische Festung und macht die Erfahrung einer inneren Spaltung. Der Gast als absolut Anderer stellt Fragen und die Rolle des Gastgebers infrage. „Der Einladende ist der von seinem Eingeladenen Eingeladene“, schreibt Derrida. Die europäische Abschottungspolitik weist mit den Menschen auch deren Fragen und Ansprüche zurück. Wobei viele Flüchtlinge den Status des Ankömmlings, den man willkommen heißen kann oder nicht, gar nicht erst erreichen. Frontex sorgt dafür, dass sie zurück müssen, bevor sie angekommen sind. Oder dafür, dass sie gleich ertrinken.

Für Derrida bewegt sich die absolute Gastfreundschaft jenseits rechtlicher Regelungen und polizeilicher Markierungen, sie überschreitet die Logik von Vereinbarungen und verlangt nicht nach Gegenleistungen. Die absolute Gastfreundschaft erwartet nichts, sie ist reine Gabe. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob das Konzept der unbedingten Gastfreundschaft nicht Ausdruck einer politischen Romantik ist, die zu exzessiv und entrückt ist, um wirkliche Verbesserungen zu erreichen – und damit letztlich ebenso zynisch ist wie der kleinkarierte Streit über realpolitische Details. Immerhin kann Bedingungslosigkeit ein Alibi fürs Nichtstun sein. So schrieb der irre Bild-Kolumnist Franz Josef Wagner in seiner „Post von Wagner“ angesichts des Leids der Lampedusa-Flüchtlinge: „Was kann man tun als guter Mensch? Ich denke, dass man sich umarmen muss. Wenn uns überhaupt etwas rettet in dieser Welt, dann ist es die Liebe.“ Ob Wagner-Love die indische Heilige Amma nach Lampedusa schicken will? Weltweit hat sie angeblich schon 33 Millionen Menschen umarmt. Neulich in Berlin erklärte sie einer taz-Reporterin, warum sie das tut: „Bedingungslose Liebe“.

„Ein Akt der Gastfreundschaft kann nur poetisch sein“, sagt Derrida. Skeptiker und Gegner des Dekonstruktivismus seien aber darauf hingewiesen, dass Jacques Derrida sich der Eigengesetzlichkeit des politischen Raums sehr wohl bewusst war. In einem Zeit-Interview sagte er 1998: „Die unbedingte Gastfreundschaft, die untrennbar mit einem Denken der Gerechtigkeit verbunden ist, ist als solche nicht anwendbar. Man kann sie weder in Regeln noch in eine Gesetzgebung einfach einschreiben. Wenn man sie unmittelbar in Politik übersetzen würde, könnte das ganz entgegengesetzte Folgen haben. Aber wenn wir wachsam sind, dann können und sollten wir nicht darauf verzichten, uns auf Gastfreundschaft ohne jeden Vorbehalt zu beziehen.“

Das geltende Einwanderungs- und Asylrecht darf also nicht als statisches Gebilde betrachtet werden, sondern als ein unabschließbarer Prozess. Es ist immer wieder im Horizont einer unbedingten Gastfreundschaft zu betrachten. Wer im realpolitischen Alltag nicht die „unmögliche Möglichkeit“ (Derrida) eines Ausstiegs aus angeblichen Sachzwängen im Blick behält, handelt klaustrophil. Umgekehrt gilt: Auch die Maßlosigkeit der unbedingten Gerechtigkeit ist auf maßvolle Gesetze angewiesen, um sich verwirklichen zu können – so paradox und reformistisch das klingen mag.

■ Aram Lintzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist