Wer hat den alten Fritz geklaut?

PROLOG Mit postmigrantischem Theater wurde die Intendantin Shermin Langhoff bekannt. Nun übernimmt sie das Maxim-Gorki-Theater und legt mit der Ausstellung „Herbstsalon“ gleich eine erweiterte Standortbeschreibung vor

■ Die Eröffnung des Gorki-Theaters unter dem neuen Leitungsteam findet am 15. 11. mit Tschechows „Kirschgarten“ statt, Regie: Nurkan Erpulat. Am 16. 11. folgt eine Bühnenfassung von Olga Grjasnowas Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, Regie: Yael Ronen. Am 17. 11. hat Marianna Salzmanns Stück „Schwimmen lernen“ Premiere, Regie: Hakan Savas Mican. Stücke von Sibylle Berg, Simon Stephens und Volker Braun folgen.

■ Shermin Langhoff wurde 1969 in Bursa geboren. Volontariat beim NDR. Deutsch-türkische Kulturarbeit. Zusammenarbeit mit dem Kinoregisseur Fathi Akin. 2009 übernahm sie das Ballhaus Naunynstraße. Ihr Koleiter Jens Hillje – aufgewachsen in Mailand, München und Landshut, Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Perugia, Hildesheim und Berlin – war zuletzt Chefdramaturg an der Berliner Schaubühne.

■ Die Ausstellung „Herbstsalon“ ist noch bis zum 17. November in und um das Palais am Festungsgraben zu sehen, täglich von 12 bis 20 Uhr.

■ Infos www.gorki.de

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Nicht weit vom Maxim-Gorki-Theater in Berlins historischer Mitte steht ein Reiterstandbild von Friedrich dem Großen auf dem Boulevard Unter den Linden. Gleich mit mehreren übereinander getürmten Sockeln, die von Generälen, aber auch den Literaten der Aufklärung umgeben sind, erhöhte der Bildhauer Christian Daniel Rauch 1836 den König fünfzig Jahre nach dessen Tod. Auftraggeber war Friedrich Wilhelm III. Und da man weiß, dass die Auftraggeber von Denkmälern mit dem Blick in den Spiegel der Geschichte stets auch die eigene Gegenwart heben wollen, zeugt das Denkmal auch von der Suche nach Stärke und Popularität eines Regenten, der mit seinem preußischen Staat selbst nicht so recht vorankam.

Das Pferd, auf dem der Alte Fritz reitet, ist dem Bildhauer besonders schön gelungen. Das kommt nun gut zur Geltung auf einer Fotografie, die Luchezar Boyadjiev gemacht hat. Der aus Sofia stammende Künstler hat eine Schwäche für die Reiterstandbilder des 19. Jahrhunderts, die für viele Regenten und Staaten ein wichtiges bildpolitisches Instrument auf der Suche nach einer nationalen Identität waren. Boyadjiev hat sie in Berlin, Moskau, Dresden, Paris, Venedig und in vielen anderen europäischen Städten fotografiert. Dass bei ihm aber gerade auffällt, mit wie viel Liebe sich die Künstler den Pferden widmeten, liegt daran, dass er die Reiter wegretuschiert hat. Respektlos gewissermaßen gegenüber dem Projekt Nation-Building – aber auch mit einem liebevollen Humor.

Boyadjievs fotografische Serie ist nun in einem selbst mit historischen Anleihen prächtig ausstaffierten Raum ausgestellt, im Palais am Festungsgraben, das gleich neben dem Maxim-Gorki-Theater gelegen ist. Lange residierten in diesem Palais Repräsentanten der preußischen Finanzverwaltung. Nach 1945 wurde das im Krieg zerstörte Gebäude von der sowjetischen Militäradministration mit viel Pomp wieder aufgebaut und zum Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft bestimmt. Das Maxim-Gorki-Theater, das im Haus der Singakademie nebenan gegründet wurde, verdankt seine Existenz ebenfalls diesem sowjetischen Programm.

Wenn das Gorki-Theater nun eine Woche, bevor es unter der neuen Intendantin Shermin Langhoff auf der Bühne zu spielen beginnt, im Palais am Festungsgraben die Ausstellung „Herbstsalon“ vorausschickt, dann ist schon durch den Ort der historische Bogen weit gespannt. Der räumliche Kontext wirft den Künstlern die Stichworte zu, etwa die repräsentativen Gesten von Staaten und Nationen, die sich Unter den Linden wie Perlen auf einer Schnur aufreihen. Die meisten der dreißig beteiligten Künstler greifen das auf produktive Art und Weise auf.

Kaya Behkalam etwa, der 1978 in Berlin geboren ist und heute in Kairo lebt, hat dort mit Tänzern und Tänzerinnen an der Nachstellung der heroischen Gesten gearbeitet, die man aus Historienbildern kennt, etwa von der Marianne auf den Barrikaden. Die Tänzer stehen auf einem sich drehenden Podest wie von einer Spieluhr; eine Kamera fängt sie dabei von allen Seiten ein und lässt die Probleme im Abgleich der lebendigen mit den allegorischen Körpern ahnen. Auch Azin Feizabadi, in Teheran geboren und in Berlin lebend, arbeitet mit Übersetzungen: In einer Sound-Installation etwa, die vom Balkon des Palais das Kastanienwäldchen davor beschallt, lässt er zur Melodie des klassischen Gebetsruf Ausschnitte aus den Grundrechten der deutschen Verfassung singen.

Anliegen: den Besucher an seine Grenzen stoßen, um ihn zu motivieren, darüber hinaus zu wollen

Am Ballhaus Naunystraße in Berlin-Kreuzberg hat Shermin Langhoff das erste Mal ein Theater geleitet und dort in den vorausgegangenen fünf Jahren den Begriff des postmigrantischen Theaters geprägt. Sie machte damit eine kleine Gruppe von jungen Theatermachern und Autoren über Berlin hinaus bekannt, die mit Geschichten der Kinder und Enkeln von Migranten arbeiteten. Dazu gehören die Regisseure Nurkan Erpulat und Hakan Savaş Mican und die Autorin Marianna Salzmann, die alle auch wieder neue Produktionen am Gorki-Theater Ende kommender Woche zeigen werden. Doch trotz diesem Erfolg war die Überraschung groß, als Shermin Langhoff 2012, zusammen mit dem Dramaturgen Jens Hillje, als neues Leitungsteam des Gorki-Theaters vorgestellt wurde.

Das Ballhaus Naunynstraße, ein kleines Theater, das gar nicht so viele Zuschauer fassen konnte, wie beispielsweise in das Stück „Verrücktes Blut“ wollten, schien mit seinen Themen im Bezirk Kreuzberg so punktgenau zu Hause, dass es der Fantasie schwerfiel, sich das Ganze auch als ein Erfolgsmodell für das größere Gorki-Theater in Berlin-Mitte vorstellen zu können.

Mit dem „Herbstsalon“ aber und den Blicken, die die teils auch international bekannten Künstler auf den Ort und seine Geschichten werfen und dabei Verbindungen in die Kolonialgeschichte legen, weiten Shermin Langhoff und ihre Mitorganisatoren den diskursiven Rahmen, in den sich das Theater stellen will. Sie formulieren damit den Anspruch, nicht als lokale Kiezkultur, sondern auf einem globalisierten, internationalisierten Parkett wahrgenommen zu werden.

Zwei Künstlerinnen der Ausstellung, Silvina Der-Meguerditchian und Judith Raum, haben sich mit der Geschichte der Verbindungen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und den Ottomanen auseinandergesetzt zu der Zeit, als der Bau der Bagdadbahn mit kolonialen Visionen von der Erschließung Anatoliens als reicher, agrarischer Garten einherging.

Wenn Erden Kosova, Autor aus Istanbul und einer Mitorganisatoren des „Herbstsalons“, über deren Arbeiten redet, wird deutlich, wie viel mehr er über diesen Hintergrund weiß als zum Beispiel ich.

Trotz ihrer Erfolge war die Überraschung groß, als Langhoff als neue Intendantin vorgestellt wurde

Der „Herbstsalon“ konfrontiert den Besucher nicht nur mit Geschichte, sondern auch mit den Lücken seines historischen Wissens. Man erkennt sicher den Kopf von Angela Merkel, den die Künstleraktivisten von Bankleer als große Skulptur schlafend auf den Boden gelegt haben, um aus deren Mund schnarchende und flüsternde Laute abzusondern, aber man erkennt nicht unbedingt einen weiteren Protagonisten ihrer Installation, Dutty Boukman, einen Pionier der Haitianischen Revolution von 1791. So ist es sicher ein Anliegen des „Herbstsalons“, den Besucher an seine eigenen Grenzen stoßen zu lassen, verbunden mit der Hoffnung, ihn zu motivieren, darüber hinaus zu wollen.

Zu den Regisseuren, die Langhoff und Hillje für das Gorki gewinnen konnten, gehört Yael Ronen, in Jerusalem geboren und mit Projekten bekannt geworden, in denen sie mit Schauspielern aus Israel, Palästina und Deutschland erforschte, was das eigentlich sein soll, historische Schuld, und was das für die je nächste Generation bedeutet. Ihre Herangehensweise ist dabei ebenso von Verantwortung geprägt wie von einem kratzbürstigen Widerstand gegen nationale Zuschreibungen.

Yael Ronen hat auch für den „Herbstsalon“ eine Performance beigesteuert: Vor dem Gorki-Theater steht die Neue Wache, gebaut als Denkmal für die Befreiungskriege gegen Napoleon und von Helmut Kohl zur zentralen Gedenkstätte für die Opfer der Kriege umgewidmet. In dieses Gerangel um Deutungshoheit, in dieses Gewirr mahnender, trauernder und triumphierenden Stimmen mischt sich nun jeden Tag zwei Stunden lang ein Schauspieler, der sich bei den Passanten, vielen Touristen darunter, entschuldigt. Wofür? Für was auch immer Deutschland dem Land seiner Herkunft angetan hat.