Soziologisch motivierte Gemeinschaftsspiele

POLITIK UND THEATER Das Münchner Spielart-Festival will uns aufwecken: mit einem Potpourri aus Diskurs, Bewegung und Inszenierung

Diese eigenartig isolierten Becken- und Brustmuskelbewegungen von Nagy sind so widerwärtig wie sexy

VON SABINE LEUCHT

Es schwirrt einem rasch der Kopf an diesem Diskurswochenende beim Spielart-Festival in München. Unter dem appellativen Titel „Wake Up!“ findet hier eine „Versammlung für ein anderes Europa“ statt, was da heißt: Die EU-Flüchtlingspolitik wird erklärt, ein Netzwerk für soziokulturelle Alternativprojekte beschreibt seine ersten linkischen Schritte; ein aufgewühlter Grieche legt den Finger in die Wunden eines „ausgeplünderten“ Landes und zeigt, was Menschen in seinem Heimatort Katerini mit Zeit und Erfindungsgeist in puncto Direktvertrieb („Kartoffelbewegung“) und medizinischer Grundversorgung zum Laufen bringen. Lars Geiges vom Göttinger Institut für Demokratieforschung stellt beim Sezieren des deutschen „Wut-“ oder „Mutbürgers“ fest, dass er zu 55 Prozent studiert hat, oft Ingenieur ist, aber niemals kleine Kinder hat. Und Leonidas Martin Saura hat gerne seinen Spaß, weshalb er vor allem in Barcelona schräge Proteste gegen die Finanzordnung inszeniert und filmt. Seine tollste Erfindung: ein reflektierender Ballonwürfel, der bei Demos aggressive Polizisten in ballspielende Kumpels verwandelt, die sich im Filminterview freuen: „Viel besser als Pflastersteine!“

Das samstägliche Kontrastprogramm platziert zwischen Márton Gulyás’ Bericht aus Ungarn – dessen „binnen vier Jahren vor die Hunde gegangene Demokratie“ er für exemplarisch hält – und einem Theaterkrisenpanel, an dem der Geschäftsführer des Produktionsbüros Krétakör ebenfalls teilnimmt, einen halsbrecherischen Kurztrip in die Welt der Volkswirtschaft, an dessen Ende ein so linkskompatibles wie schwer verkäufliches Fazit steht: Deutschland muss nur die Löhne erhöhen, dann ist die Krise im Süden Europas vom Tisch. Das sagt Heiner Flassbeck, auf den seine ehemaligen Arbeitgeber im Finanzministerium und im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung offenbar nicht mehr hören. Danach wirken die Theaterbesetzer aus Athen (Embros) und Rom (Teatro Valle Occupato) wie heillos naive Nostalgiker. Sie glauben noch an die Macht der Kunst und mehr noch an die der Gemeinschaft.

„Wake Up!“, aus dessen fast vierzigteiligem Programm hier ein Miniausschnitt zitiert wurde, spiegelt in seiner Themen- und Haltungsvielfalt Qualität und Dilemma der aktuellen Spielart-Ausgabe wider. Die Biennale für neue Formen und Blickwinkel im Theater feiert derzeit ihr zehntes Jubiläum mit einem wahren Mammutprogramm, das selbst die gierigsten Bühnenjunkies überfordert. Gut zwei Wochen lang stehen bis zu einem Dutzend Veranstaltungen täglich meist unverbunden nebeneinander. Einiges davon ist gut im Stadtbild versteckt, vieles zu lang. Und das ganz neue, überzeugende Experiment fehlt zur Halbzeit noch.

Aber da waren zum Beispiel die Ungarn: Der Film- und Theaterregisseur Kornél Mundruczó kam mit einem Projekt seines vier Jahre jungen Proton Theatre nach München, das neben Spielart selbst, das 2013 zusätzliches Geburtstagsgeld von der Stadt wie von seinem „private partner“ BMW bekam, noch viele weitere internationale Koproduzenten hat. Anders können die Ungarn unter der rechten Regierung Orbán derzeit keine Kunst produzieren. (Weshalb sich Krétakör, dessen künstlerischer Leiter Árpád Schilling unter anderem an der Münchner Staatsoper und bei den Wiener Festwochen inszeniert, im eigenen Land längst nicht mehr als Theater versteht und sozialwissenschaftlich motivierte „Gemeinschaftsspiele“ ausrichtet.)

Mundruczós „Dementia“ nun spielt in einer hyperrealistischen postsozialistischen Abbruchkulisse und ist herrlich wild, böse und mit vielen schrägen Handlungs- und Bildideen einer der unterhaltsamsten Abende im bislang eher spröden Programm. Andererseits aber verläuft sich die Sozialfarce über eine Demenzklinik, deren letzte vier Patienten von einem windigen Investor auf die Straße gesetzt werden, gegen Ende gnadenlos. Dass der Abend eine Parabel auf die ungarischen Verhältnisse ist, ist schnell klar.

Seine dementen Patienten, verkündet der Arzt, der zu deren „Schutz“ alle Pillen selbst schluckt, seien ganz wie Ungarn: „Keine Vergangenheit, keine Zukunft“. Er selbst erweist sich als überaus anfällig für Korruption und Betrug, kriegt aber mit der Teilnahme am Kollektivselbstmord der Überflüssigen gerade noch mal die Kurve. Das blutige Schauermärchen, zu dem der unfertig wirkende Schluss mutiert, verspielt allerdings den guten Eindruck, den zuvor vor allem Ervin Nagy als fabelhaftes Ekel Bartonek und Annámarie Lang als durchgeknallte Pflegerin machten. Dieser auftrumpfende Operettentenor und diese eigenartig isolierten Becken- und Brustmuskelbewegungen von Nagy sind so widerwärtig wie sexy. Und die tiefenentspannte Nacktheit Langs ist schlicht phänomenal.

Doch – und das gilt auch für das Festival selbst: Weniger wäre mehr gewesen.