Nachruf auf Schriftsteller Peter Kurzeck: Ein radikaler Biograf

Er schrieb die Chronik des alten Jahrhunderts von unten: Peter Kurzeck ist im Alter von 70 Jahren gestorben und hinterlässt ein unfertiges Monumentalwerk.

Schriftsteller mit eigenem Sound: Romancier Peter Kurzeck während eines Stipendiums-Aufenthalts auf Sylt. Bild: Karsten Thielker

In seinem Roman „Oktober und wer wir selbst sind“ heißt es in einer Erinnerung des Erzählers: „Das Jahr 1983. Im Juni vierzig geworden und fristgerecht meine Arbeit verloren, eine unersetzliche Halbtagsstelle in einem Antiquariat, und mit meinem dritten Buch angefangen. Über das Dorf meiner Kindheit. Staufenberg im Kreis Gießen“.

Dreißig Jahre später: 2013 wurde Peter Kurzeck 70 alt und war noch lange nicht fertig mit dem Schreiben über diesen Ort. Jetzt ist er unerwartet in einem Krankenhaus in Frankfurt am Main gestorben.

Kaum ein Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schrieb zugleich so manisch und so konzentriert über einige wenige Schauplätze seines Lebens. Außerdem konnte niemand so elegisch und liebevoll wie Kurzeck über seine Familiengeschichte sinnieren.

Er war der „radikale Biograph“. Diesen Titel gab Erika Schmied ihrem Bildband über den Autor, der zuletzt im Stroemfeld Verlag erschien, dem Kurzeck zeitlebens die Treue hielt.

Ständig geht es in Kurzecks Büchern um seine einzige Tochter Carina und deren Mutter Sibylle. Beinahe mythisch kommt einem bereits nach wenigen Zeilen die gescheiterte Beziehung vor, welche die Chronik der Kleinfamilie wie eine veritable Zeitenwende überschattet: Dass Sibylle in den frühen achtziger Jahren plötzlich nicht mehr mit dem Erzähler zusammen ist, der in den Romanen Kurzecks zu uns spricht, wurde zu einem der zentralen Themen seines Werks.

Einzigartiger Romancier

Vergangene und verlorene Zeiten wiederaufleben zu lassen war die große Gabe dieses einzigartigen Romanciers. Ein Zitat aus dem Roman „Ein Kirschkern im März“ (2004) kündet auf paradigmatische Weise vom pausenlosen literarischen Festhalten jeder noch so unscheinbaren Erinnerung, die Kurzeck aus der Kindheit in den Fünfzigern hervorzuholen versuchte, als nach der Flucht aus Böhmen alles anfing, gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs: „Mein Arbeitstisch in den Wolken. Zurück und mein Manuskript aufwecken. Und gleich fängt das Dorf zu reden an. […] Die Fenster auf, ein Vormittag und das ganze Dorf kommt zu dir ins Zimmer herein und fängt gleich zu reden an. Mit vielen Stimmen. Nicht nur die Menschen. Jedes Ding, jeder Augenblick. Sogar die Steine.“

In der Melancholie dieser Proust’schen Dauermeditation, die zu seiner Marke wurde und ihm einen Platz in der Literaturgeschichte sicherte, ging es Kurzeck aber gar nicht um konkrete Orte.

Er war kein Regional- oder gar Heimatschriftsteller. Kurzeck träumte sich in einen ganz eigenen Sound des Denkens und Schreibens hinein, in eine detailversessene, musikalisch vor sich hin kontrapunktierende Ästhetik der Provinz, die tatsächlich alles andere als provinziell war.

Kurzeck war auf der Suche nach utopischen Orten, die hätten existieren können: „Unverhofft Marseille“ hieß eine seiner gelungen, selbst eingesprochenen Hör-CDs, die die Kritiker jubeln ließen, hier sei eine neue literarische Gattung entstanden.

Ein stiller Beobachter

Typisch für Kurzecks Protagonisten ist ein Kindheitswunsch wie der, auf der überaus trägen und flachen Lahn möchten doch einmal Schiffe fahren. Gleichzeitig ging es bei Kurzeck immer um die Verheerungen der Moderne und des Kapitalismus, wobei sein Ton nie kulturpessimistisch war. Er pflegte den Stil eines stillen Beobachters und besonnenen Protokollanten jeder noch so kleinen Veränderung dort, wo er gerade wohnte oder spazieren ging.

Sogenannter Junk-Space, der allein dem Konsum dient, beschäftigte den Schriftsteller bereits in seinem frühen Roman „Das schwarze Buch“ (1982), nach wie vor ein Geheimtipp in Kurzecks Werk.

Darin enthalten sind bereits Bemerkungen zu Frankfurt, die jetzt, zu Zeiten des protzigen Baus einer Europäischen Zentralbank, welche die südeuropäische Wirtschaft diktatorisch in den Abgrund hinein verwaltet, einen ganz neuen Klang haben: „Direkt daneben eine gigantische Baustelle zwecks Erstellung von achttausend Tiefgaragen, Pazifik-Hallenbad, Millionärssauna, Palmenstrand-Solarium, Recreation Center. Ab morgen. Schon jetzt. Supermarkt, Shopping-Festival“.

Am Ende der Passage heißt es dann, das sei also „die neue Zeit - gibt’s denn hier KEINEN NOTAUSGANG?“

Nein, keine Rettung in Sicht: Im letzten Roman, „Vorabend“, den Kurzeck aus einem von Korrekturen übersäten Manuskript im Frankfurter Literaturhaus freiwilligen Helferinnen und Helfern vor Publikum diktierte, wird die Geschichte dieser marktgesteuerten Modernisierung neu aufgerollt: Hier wird der bittere Leidensweg der Igel rund um Staufenberg in Einzelheiten erzählt und aus der Perspektive von unten deutlich gemacht, dass es einen solchen Notausgang in diesem Leben und in dieser Welt derzeit nicht gibt: Plötzlich ist da, wo früher freier Raum war, eine Schnellstraße, auf der die Tiere einfach plattgefahren werden.

Mit der apokalyptischen Historie der Staufenberger Igel, einem von Kurzecks unzähligen Exkursen, hatte es der Autor nicht bewenden lassen. Sein monumentales, auf zwölf Bände hin angelegtes Projekt „Das alte Jahrhundert“ bleibt nun unabgeschlossen.

Zuletzt hatte Kurzeck sein Publikum mit der Aussage belustigt, sein letzter, tausendseitiger Roman sei „eigentlich aus einem einzigen Nebensatz“ entstanden. Es war ein schönes Bild für die Unabschließbarkeit seines Erzählens, dessen Melodie nicht verklingen wird.

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