VON DER GRUNDSÄTZLICHEN NEUTRALITÄT DES THEOLOGIEPROFESSORS
: Lutherische Notengebung

Gott und die Welt

MICHA BRUMLIK

Dass es bei der Bewertung akademischer Leistungen extrem ungerecht zugehen kann, ist seit dem Fall Guttenberg sattsam bekannt. Dass Ungerechtigkeit auch durch überzogene Ansprüche entstehen kann, ist jedoch verdrängt worden. Von einem solchen Fall ist hier zu berichten.

An der Humboldt-Universität zu Berlin existiert seit einiger Zeit ein nichttheologischer Masterstudiengang „Religion und Kultur“. Dort reichte die Studentin Luise Mohnhaupt vor mehr als einem Jahr ihre mit etwa hundert Seiten deutlich zu lang geratene Arbeit „Antijudaismus als Herausforderung an die evangelische Theologie“ ein, in der antike Judenfeindschaft, mittelalterlicher Antijudaismus sowie Luthers Judenhass und dessen Übernahme bis zum Holocaust erörtert werden.

Der Erstgutachter, der ideengeschichtlich forschende Historiker Julius Schoeps, war von der umfassenden Rezeption, dem packenden Zugriff und der intellektuellen Autonomie, mit der Frau Mohnhaupt die Forschungsliteratur verarbeitet hatte, überzeugt und bewertete die Arbeit mit der besten Note. Die Zweitgutachterin, die der theologischen Fakultät angehörende Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg, eine engagierte Lutheranerin, benotete die Arbeit jedoch, wenn auch zögerlich, nur mit „ausreichend“, hätte sie doch ihrer Überzeugung nach erst gar nicht angenommen werden dürfen. Gleichwohl ließ sie die Arbeit gnädig passieren. Es ginge zu weit, alle Argumente aufzuführen, mit denen Wendebourg das Urteil ihres Kollegen Schoeps entwertete und ihn damit desavouierte. Sie hielt der Studentin vor, widersprüchlich zwar für eine radikale Revision des, aber eben auch für eine „Aufarbeitung ohne Selbstaufgabe“ des ehemals antijudaistischen Christentums zu plädieren.

Wie in Fällen eines Auseinanderklaffens von Bewertungen – hier „sehr gut“, dort „noch ausreichend“ – vorgeschrieben, wurde die Arbeit einem Drittgutachter zugeleitet, dem evangelischen Alttestamentler Markus Witte, der dem ehedem von Peter von der Osten-Sacken geleiteten, seinerzeit bedeutenden „Institut Kirche und Judentum“ an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität vorsteht. Witte löste das Loyalitätsproblem, indem er die Arbeit salomonisch mit „noch befriedigend“ bewertete. Er begründete seine Note mit Einwänden, die bei einer Masterarbeit übertrieben sind: Die Studentin habe nicht definiert, was sie unter „Religion“ bzw. „Theologie“ verstehe, und ihre Arbeit beruhe nicht auf eigenständigem Studium historischer Quellen. Schließlich, immerhin, erhielt Frau Mohnhaupt ein Abschlusszeugnis mit der Gesamtnote „gut“.

Die Studentin, von der überdurchschnittlichen Qualität ihrer Arbeit überzeugt, verklagte darauf die Universität, ein weiteres Gutachten durch eine neutrale Person, die nicht im Fach Theologie tätig ist, erstellen zu lassen. Sie hatte recht: Tatsächlich war es unglücklich, nicht einen außenstehenden Kulturwissenschaftler statt eines Drittgutachters aus der Theologischen Fakultät zu bestellen.

Eine hochpolitische Frage

Die Reaktion der Universität auf diese Klage aber macht das akademische Nähkästchen zu einer hochpolitischen Angelegenheit! Bemühte doch die Universität nicht weniger als das schwere Geschütz des deutschen Staatskirchenrechts: werde doch mit der Forderung nach einem unabhängigen Gutachter unterstellt, dass die „gebotene wissenschaftliche Neutralität bei einem Professor einer evangelisch-theologischen Fakultät nicht gegeben“ sei, „vielmehr Befangenheit vorliege“. Schließlich gelte, dass „die wissenschaftliche Neutralität“ eines Professors einer Evangelisch-Theologischen Fakultät – so der Schriftsatz wörtlich – „in keiner Weise in Frage gestellt werden kann“.

Wirklich nicht? Sind nicht Zweifel angebracht, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass Kirchenhistorikerin Wendebourg derzeit bemüht ist, die Folgen von Luthers judenfeindlichen Schriften – also deren begeisterte Rezeption durch Antisemiten – mit Verweis auf die Lutherlektüre deutscher Juden im 19. Jahrhundert zu entschärfen. Ort der Publikation ihrer apologetischen Thesen: das „Jahrbuch des Instituts für Kirche und Judentum 2012“. Mitherausgeber: Drittgutachter Witte. Vom Verdacht der Befangenheit aber sind Theologieprofessoren ja grundsätzlich ausgenommen …

■ Micha Brumlik ist Publizist und Erziehungswissenschaftler. Er lebt in Berlin