Die Geschichte zweier Schwestern

LITERATUR Glück durch Anpassung – Dina Nayeris Roman „Ein Teelöffel Land und Meer“ erzählt von notwendigen Lügen im Iran

VON SEYDA KURT

Als Saba zum ersten Mal ihre Periode bekommt, fragt sie sich, ob es ihrer Zwillingsschwester Mahtab auch so ergeht. Denn ihr Schicksal wird von der DNA, die die beiden teilen, bestimmt. Das ist zumindest die Philosophie ihrer Eltern. Dann denkt Saba an ihre Mutter und möchte sie anrufen. Khanom Basir, ihre Ersatzmutter, sagt, dass sie das nicht kann. Warum?

„Es ist die Entscheidung deines Vaters, wann er dir alles erzählt. Also nimm das jetzt nicht zum Vorwand, um ein Saba-Drama daraus zu machen. Es gehört zum Frausein dazu, Dinge hinzunehmen und seinen Schmerz nicht zum Mittelpunkt zu machen.“

Eine Stelle aus Dina Nayeris Roman „Ein Teelöffel Land und Meer“, die die wichtigsten Fragen für die Protagonistin Saba vereint: Was ist ihrer Zwillingsschwester zugestoßen? Wo ist ihre Mutter? Und wie ist die Rolle der Frau in dem neuen Iran nach der islamischen Revolution? Die ersten beiden Fragen halten die Spannung in dem Roman, sie begleiten Saba 20 Kapitel lang. Die Antwort verschwimmt zwischen Wahrheit und Lüge in den Geschichten, die Saba und ihre drei Ersatzmütter erzählen.

Während die Islamische Republik Veränderungen im Land durchsetzt, zieht Sabas Familie in das friedliche Dorf Cheshmeh. Es gilt ein Geheimnis zu verbergen: Die Familie ist vom Islam zum Christentum konvertiert und das ist im neuen Iran strafbar. „Ich werde nicht zulassen, dass sie hier aufwächst. Dass sie mit Dorfkindern ihre Zeit vertut, Kopftuch trägt und Arabisch lernt“, hatte ihre Mutter auf dem Weg zum Flughafen noch gesagt.

Aber genau das wird Saba tun, da sie im Iran zurückbleibt. Ihre einzige, nebelhafte Erinnerung an diesen Tag: Ihre Mutter steigt mit Mahtab an der Hand in das Flugzeug nach Amerika. Aber war das wirklich so? Von Jahr zu Jahr wird diese Vision diffuser.

Die Autorin Dina Nayeri, geboren während der Islamischen Revolution, emigrierte als Zehnjährige nach Oklahoma und studierte selbst in Harvard. Sie arbeitete in der Modewelt, als Unternehmensberaterin, Bankerin und sogar als Rettungsschwimmerin, bis sie zum Schreiben kam. „Ich habe die Geschichte zweier Schwestern erdacht, die nach der Revolution getrennt wurden, und jeder von ihnen eins meiner möglichen Leben gegeben – das, das ich gelebt habe, und das, das ich hätte leben können“, erzählt sie in einem Interview.

„Hier können schlaue Kinder alles werden, was sie wollen“, sagt ihre Mutter in Sabas Vorstellung zu Mahtab. „Wenn sie fleißig sind, können sie reich werden.“ So hat ihre Maman immer geredet: einfache Regeln, Schwarz und Weiß. So eindimensional will die Autorin das Leben im Iran nach 1980 nicht zeichnen. Ihre Figuren sind ambivalent: Mullah Ali ist zwar ein geistlicher Vertreter des düsteren Irans, wahrt trotzdem das Geheimnis der Familie. Reza, den Saba seit ihrer Kindheit liebt, ist ein untypischer Dorfjunge, der die Beatles vergöttert. Und die Gerüche, die Gerichte und die bunten Stoffe, die in dem Roman oft eine Rolle spielen, erzeugen ein sinnliches, märchenhaftes Bild des Iran.

In ihrer Übersetzung gebrauchen Ulrike Wasel und Klaus Timmermann eine Sprache, die diese Sinnlichkeit durch lange Sätze, bildhafte Beschreibungen und besonders durch Idiome der iranischen Tradition, die richtigerweise nicht mühselig übersetzt wurden, ergänzt. Kitschig klingt das nicht.

Nayeris Hauptfigur Saba ist keine rebellische Heldin, sie muss eher eine Diplomatin sein. Ihre Rebellion beschränkt sich auf das Hören US-amerikanische Musik oder die Lektüre verbotener Literatur. Frauen, die sich radikal gegen das islamische Regime wehren, gibt es zwar in Nayeris Roman. Doch scheitern diese, wie auch Sabas Mutter.

Saba hingegen erreicht ihr Ziel, indem sie sich anpasst und abwartet. Sie heiratet einen alten, reichen Mann, um einmal gut leben zu können. Saba nennt sich deshalb selbst eine „Kapitalistin“.

„Das ganze Dorf kennt die wahre Geschichte, obwohl keiner darüber spricht. Hübsche Lügen sind uns lieber als hässliche Wahrheiten“, so sagt eine andere Protagonistin in Nayeris Roman. Lügen scheint eine notwendige Fähigkeit in einem Land, in dem doch so einiges verboten ist. Der Schriftstellerin Nayeri gelingt daraus ein schönes literarisches Spiel.

■ Dina Nayeri: „Ein Teelöffel Land und Meer“. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Mare Verlag, Hamburg 2013, 528 Seiten, 22 Euro