Die Füße im Beton

NOIR Glänzend geschrieben, filmisch gedacht: Dennis Lehanes Mafiageschichte „In der Nacht“

Er ist in bemerkenswerter Weise ortstreu, der Bostoner Dennis Lehane. Kaum jemals hat er in seinen Büchern die Stadtgrenzen von Boston hinter sich gelassen. Zuletzt war das in „Shutter Island“ der Fall (dessen Verfilmung durch Martin Scorsese weit hinter der großartig klaustrophobischen Romanvorlage zurückblieb). Danach zog er sich wieder auf heimatlichen Boden zurück und schrieb „Im Aufruhr jener Tage“, einen historischen Roman über Boston in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Mit „In der Nacht“ legt er eine lose daran anknüpfende Fortsetzung vor, die in Boston beginnt und zur anderen Hälfte in Florida spielt, wo Lehane seinen zweiten Wohnsitz hat.

Es ist ein ziemlich perfektes Stück Noir-Literatur, in dem der Autor Kategorien wie Gut und Böse gnadenlos aufweicht und ein Mafia-Epos furchtlos mit einer Heldengeschichte kreuzt. Wer ein Buch damit beginnt, dass der Protagonist mit den Füßen in einer Betonwanne auf einem Boot sitzt, der hat keine Angst vor Gangster- und sonstigen Handlungsklischees. Die Frauen in diesem historischen Lehane sind vor allem schön und die Jungs vor allem schwer, und Lehanes Stil ist ironisch-elegant auf eine Art, die sowohl unterhält als auch sprachästhetische Bedürfnisse überlegen bedient.

Die Jahre der Prohibition, die in den USA von 1919 bis 1933 dauerte, haben unendlich viel für die organisierte Kriminalität getan. Al Capone und Konsorten gründeten ihre zunehmend einflussreichen Syndikate anfänglich vor allem auf den illegalen Vertrieb von Alkohol. Eine solche mafiose Organisation steht im Zentrum von „In der Nacht“. Der Held des Romans allerdings ist, obgleich mafiose Spitzenkraft, ein Außenseiter. Joseph – genannt Joe – Coughlin ist der Sohn eines hohen, aber korrupten Polizeibeamten und schon von Kindheit an auf der falschen Spur. Anders als sein älterer Bruder Danny, der sich im Vorgängerroman als Polizist an der übermächtigen Vaterfigur abarbeitet, geht Joe den anderen, dunklen Weg, den Weg durch die Nacht, in der die verbotenen Geschäfte blühen.

Joe erlebt, wie er glaubt, die Liebe seines Lebens, als er noch nicht zwanzig ist. Doch seine wunderschöne Freundin Emma ist die Geliebte einer bekannten Untergrundgröße. Als ihre Beziehung zu Joe auffliegt, versinkt Emma nach einer Verfolgungsjagd mit einem Auto im Fluss, während Joe nur sehr knapp mit dem Leben davonkommt. Die Trauerzeit verbringt er im Gefängnis und überlebt auch dieses nur gerade so eben. Diese erste knappe Hälfte des Romans ist mit Abstand die spannungsreichste. So mythisch aufgeladen, wie Joes große Liebe zu Emma ihres jähen Endes wegen bleiben muss, so ist auch die Beziehung zu seinem Vater. Nachdem sowohl Geliebte als auch Vater aus seinem Leben verschwunden sind, sind die beiden interessantesten Beziehungen, die Joe je hatte, leider lange vor dem Ende des Romans schon vorbei. Joe zieht nach Florida und übernimmt dort das Geschäft für den Mafiaboss Maso Pescatore, der ihm als vaterähnliche Bezugsperson geblieben ist. Aber dass auf einen Don als Ersatzvater nicht viel Verlass ist, versteht sich von selbst. Daher auch die Wanne voll Beton.

Und so glänzend Lehane auch schreibt, und so sauber die Handlung auch auf ein Showdown zusteuert, so ist dieser gesamte zweite Teil des Romans doch etwas zu sehr Florida. Etwas zu entspannt, zu milieuverliebt, vielleicht auch zu episch in der Anlage. Lehane erzeugt die größten Knaller sämtlich in der ersten Romanhälfte. Wenn aber am Schluss lose Erzählfäden wieder aufgenommen werden, die man schon fast vergessen hatte, so wirkt das wie eine der Form gehorchende Pflichtübung.

Natürlich gibt noch ein paar großartige Stuntszenen – die aber so filmisch aufgezogen sind, dass es fast wirkt, als habe der Autor noch während der Arbeit am Roman an das Drehbuch gedacht, das er eines Tages daraus machen würde. Die Filmrechte hat sich übrigens Ben Affleck gesichert, der sein Händchen für Lehane-Verfilmungen bereits an dessen Roman „Mystic River“ bewiesen hat. KATHARINA

GRANZIN

Dennis Lehane: „In der Nacht“. Aus dem Englischen von Sky Nonhoff. Diogenes, Zürich 2013. 592 S., 22,90 Euro