Die Liebe im Tumult

THEATER Am Goetheplatz feiert Alize Zandwijks Inszenierung von Tschechows Schauspiel „Der Kirschgarten“ Premiere: Wunderbare Momente in zu hektischer Umgebung

Erotik und Romantik scheitern hier, weil sie es dürfen. Vielleicht kommt gerade darin der Konservatismus der Überholten zu seinem Recht

VON JAN-PAUL KOOPMANN

Zu Beginn herrscht unruhiges Warten im Landsitz der Ranjewskaja und im Premierenpublikum am Goetheplatz gleichermaßen. Alize Zandwijks Inszenierung von Tschechows Schauspiel „Der Kirschgarten“ lässt sich viel Zeit.

Dann kommt Gutsbesitzerin Ranjewskaja (Irene Kleinschmidt) nach Jahren der Abwesenheit aus Paris zurück in die russische Provinz. Sie ist pleite, der Wohlstand der Adelsfamilie auf den Kopf gehauen. Es scheint unmöglich, den Landbesitz zu halten. Der einzige konstruktive Vorschlag kommt von Kaufmann Lopachin (Robin Sondermann), dessen Eltern hier noch Leibeigene waren: Der Kirschgarten hinter dem Haus sollte abgeholzt werden, um Platz für ein lukratives Geschäft mit Ferienhäusern zu machen. Für die Adligen ein absurder Gedanke.

Tschechow zeichnet die Aristokraten und ihren dienenden Anhang als von der gesellschaftlichen Entwicklung abgehängt. Selbstgenügsam alten Zeiten verhaftet, haben sie weder Sinn noch Verständnis für Lopachins Pragmatismus. Der alte Kirschgarten symbolisiert diesen Zustand. Er ist wunderschön, aber nutzlos: Früchte tragen die Bäume nur noch alle zwei Jahre, essen tut sie auch dann niemand.

Auf der Bühne zu sehen sind die Bäume nicht. Stattdessen ein schlichter weißer Raum. Perspektivisch verzerrt wie die Lebenswirklichkeit der Handelnden ragt rechts eine riesenhafte Tür auf, gegenüber eine winzige zweite. Ein Elchkopf an der Wand starrt ins Publikum. Später wird der Blick nach draußen frei: Eine neblige Wasserlandschaft, in der herumgeplanscht wird.

Sich aufdrängende politische Lesarten der Handlung führen in die Irre. Deklassierung und die Zeitenwende zum Bürgertum sind nur Hintergrund komplexer Charakterstudien gebrochener Persönlichkeiten, die auch Zandwijks Inszenierung überzeugend erforscht. Sie verdrängen den drohenden Untergang, albern herum und erzählen Geschichten von früher. Aber alle kommen an ihre Grenzen, brechen zusammen und scheitern höchst eindrucksvoll am Versuch, Haltung zu bewahren. Einzig Lakai Firs (Guido Gallmann), der sich nach der Leibeigenschaft zurücksehnt, schafft es, würdevoll unterzugehen.

Zum großen Leidwesen der Inszenierung sind die überzeugenden Figuren in großer Gruppe kaum zu ertragen: Sie laufen hysterisch umher, prallen aneinander und verrennen sich handlungsfrei in der Konstellation. Zwischendurch ist das durchaus komisch, in der Summe aber anstrengend und ermüdend. Besonders Stilmittel zur Herstellung von Redundanz werden hier überstrapaziert: Textpassagen werden zigfach gesprochen, Bewegungsabläufe wiederholt und sogar die eigentlich ausgesprochen schöne Musik von Maartje Teussink wird Spur für Spur eingespielt und in Loops übereinander gelegt.

Alles dreht sich im Kreis und während die drohende Versteigerung des Hauses immer näher rückt, erkunden die Figuren ihre Gefühle zueinander. Und da wird es dann plötzlich richtig gut: Die Tochter des Hauses Anja (Annemaaike Bakker) und der ewige Student Trofimow (Johannes Kühn) kommen sich näher. „Wir stehen über der Liebe“, behauptet er gerade noch, da stehen sich plötzlich zwei nackte Körper schüchtern gegenüber und wissen so recht nichts miteinander anzufangen.

„Man muss sich verlieben!“, ruft Ranjewskaja in einem ihrer stärksten Momente. Und am Ende steckt in der Heirat sogar ein theoretischer Ausweg aus der Misere, doch es kommt nicht zum Antrag. Warum nicht, weiß keiner so ganz genau. Es scheint irgendwie nicht gefunkt zu haben und um die Pflegetochter in eine profane Zweckehe zu drängen, ist man in diesen Kreisen einfach nicht pragmatisch genug. Erotik und Romantik scheitern hier, weil sie es dürfen. Vielleicht kommt gerade darin der Konservatismus der Überholten zu seinem Recht.

Für Tschechow sind blühende Kirschbäume das verloren gehende Schöne, bei Zandwijk steht es nicht herum, ist aber dennoch da: Die melancholische Musik von Maartje Teussink zum Beispiel. Liedermachen hätte man früher gesagt, heute heißt es Neo-Folk. Einfach schon gut, weil handgemacht, verweist der Stil auf die gute alte Zeit. Ist auf der Bühne von den „70er-Jahren“ die Rede, meinte Tschechow das 19. Jahrhundert, während die Inszenierung das 20. zumindest mitdenkt.

Insgesamt bleibt ein anfangs etwas zäher Abend mit einigen wundervollen Szenen. Nach der Pause sind einige Plätze leer – aber wer geblieben ist, hat am Ende gejubelt.

Nächste Termine: 14. und 18. Dezember, 19.30 Uhr, Theater am Goetheplatz, Großes Haus