Ein Schmerz, schlimmer als rostige Nägel im Mund

REQUIEM Am Deutschen Theater in Berlin hat Andreas Kriegenburg den Text „Aus der Zeit fallen“ des israelischen Autors David Grossman inszeniert. Er gilt der Trauer um einen im Libanonkrieg gestorbenen Sohn

Dicht aneinander gedrängt wie Herdentiere schleppen sie sich über die Drehbühne, ein Bündel Schmerz, angeführt vom Mann, der eines Abends aufstand und seiner Frau sagte, er gehe „nach dort“, zur Schwelle zwischen Leben und Tod, wo er seinem toten Sohn begegnen wolle. Hoch ragen die Felswände einer düsteren Totengruft um sie auf, Grablichter flackern. Das Leid der Verzweifelten, die alle ein Kind verloren haben, wohnt im Körper: im Stottern der Hebamme, in den rostigen Nägeln im Mund des Schusters, dem zu schnell vergreisten Leib des Rechenlehrers. Ineinander festgekrallt ziehen sie fiebernd ihre Kreise.

Andreas Kriegenburg hat in seiner Uraufführung am Deutschen Theater Berlin das wichtigste Motiv aus David Grossmans Buch „Aus der Zeit fallen“ aufgegriffen: Die Bewegung, der Aufbruch als einzige Hoffnung vor dem Zugrundegehen. Grossman, einer der bekanntesten israelischen Schriftsteller und Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, ringt in seinem erschütternden Requiem um Worte für den Skandal, wenn ein Kind noch vor den Eltern stirbt. Er befühlt die klaffende Wunde des Verlusts von allen Seiten – untröstlich, zärtlich. Eine Prozession setzt sich darin in Bewegung, die immer weniger vom Sterben und immer mehr vom Leben erzählt, je weiter sie sich aus der Schockstarre befreit und auf den Tod zugeht.

Zurück aus dem inneren Exil

Für Grossman bedeutete das Schreiben eine Rückkehr aus dem inneren Exil. Sein Sohn Uri war in den letzten Tagen des Libanonkriegs 2006 gestorben – kurz zuvor hatte Grossman vom israelischen Regierungschef ein sofortiges Ende der Kämpfe gefordert. Das Buch ist ein lyrisches Drama, eine antike Tragödie, die wie für die Bühne geschaffen scheint. Israelische Theater hatten Berührungsängste – also griff das Deutsche Theater in Berlin rasch zu. Wen, wenn nicht Kriegenburg, der Mann für hochemotionale Stoffe, hätte das DT mit einem so todtraurigen Drama betrauen sollen.

Auch wenn die Figurenrede eine Bühnenfassung nahelegt und die rhythmische Sprache laut gesprochen werden will – „Aus der Zeit fallen“ ist ein komplexer Text, dessen Intensität alle Aufmerksamkeit braucht. Er verlangt nach Ruhe, nach einem konzentrierten Blick auf die verzweifelt gehenden Menschen.

Kriegenburg macht das Gegenteil: Er fährt ein gewaltiges Bildertheater auf, bei dem sechs Statisten fortwährend Dinge von hier nach dort schieben, kippen, räumen. Die Laternen, die in der rabenschwarzen Gruft, zu der Olga Ventosa Quintana die Bühne gestaltet hat, an die Decke gehängt werden, sind ein poetischer Beginn. Der Abend entwickelt sich aber mit immer mehr Effekten zur künstlichen Bühnenshow. Mannsgroße schwarze Würfel werden von Statisten über den Boden gewuchtet, die Schauspieler verschwinden darin und tauchen in einem anderen Würfel wider auf, als zeige man Zaubertricks.

Wie soll hier ein Gefühl von Einsamkeit entstehen? Die Würfel, mal Heim, mal Gefängnis, konkurrieren stets mit der Poesie des Textes. Unter all dem liegt dreieinhalb Stunden lang beinahe konstant melancholische Klezmer-Musik.

Die Schauspieler und die mythisierten Figuren, die sie verkörpern, bleiben dabei seltsam nebensächlich. Der Schuster des wunderbar zerfurchten Jürgen Huth, der sich an den Nägeln in seinem Mund festhält, wird von der klagenden Trauergruppe verdeckt. Daniel Hoevels als Herzog, der sich ein „zerbrochner Scherben“ nennt, bekommt man meist nur schemenhaft hinter Folie zu Gesicht. Auch die Worte von Matthias Neukirch, dem „Gehenden Mann“, bleiben oft zwischen Würfeln stecken.

Bei Jörg Poses Zentaur dann, einem Schriftsteller, der mit seinem Schreibtisch verwachsen ist und doch keine Worte findet, spürt man etwas vom Trotz, Schmerz und Witz, die diese Figur ausmachen. Gegen Ende, wenn Bernd Moss, der Chronist, mit seiner Frau (Natali Seelig) am Bühnenrand steht und darum ringt, den Abgrund, den der Tod der Tochter zwischen beide gerissen hat, zu überwinden, ohne, dass eine Klarinette das untermalt – da spürt man, wie viel Menschlichkeit in diesem Text liegt, wie viel Empathie und Hoffnung. Auf der Bühne aber ist vor allem eine Kunstanstrengung zu sehen. BARBARA BEHRENDT