Der Nachbar von John Cage

KUNST Der Karin-Hollweg-Preisträger Janis E. Müller präsentiert in der Kunsthalle seine erste institutionelle Einzelausstellung „Into Pieces“ – mit prominenter Nachbarschaft

Der Radfahrer fährt immerzu im Kreis. Unter seinen Reifen poltern die Latten. Ein in der Mitte des Sterns platziertes Schlagzeugbecken hüpft scheppernd auf und ab

VON RADEK KROLCZYK

Auf dem Boden hat jemand sternförmig 12 Holzlatten ausgebreitet. Es erinnert entfernt an eine Uhr. Ein junger Mann mit Käppi dreht über den Latten auf einem Klapprad seine Runden. Es ist ein seltsamer Hindernisparcours, beschränkt und doch nie enden wollend. Der Radfahrer fährt immerzu im Kreis. Unter seinen Reifen poltern die Latten. Ein in der Mitte des Sterns platziertes Schlagzeugbecken hüpft scheppernd auf und ab. „Fahrradkonzert mit Latten und Becken“ ist der Titel der Videoarbeit von Janis Elias Müller.

Das Video ist Teil der ersten institutionellen Einzelausstellung des jungen Bremer Künstlers. Sie ist aktuell in der Kunsthalle Bremen zu sehen. Der Titel der Schau klingt einigermaßen destruktiv: „Into Pieces“. Müller untersucht in seinen meist installativen Arbeiten die Welt nach ihren Klängen. „Die meisten Menschen möchten in ihrem Leben noch viel sehen. Ich möchte noch möglichst viel hören“, so Müller.

Ihren Sound entlockt man den Dingen, indem man sie reibt, schlägt oder drückt. Die Erzeugung von Klang ist ein Stück weit immer destruktiv. Bei Müller entstehen auf diese Weise bewegliche Skulpturen und klingende Objekte. Musikinstrumente verwendet er entgegen allen Regeln. Oft benutzt er zur Klangerzeugung musikfremde Gegenstände aus der Welt des Alltags und des Überflusses, aus dem Baumarkt und vom Sperrmüll. Wie sich rhythmisch angeordnete Holzlatten klanglich unter Fahrradreifen verhalten, wird in seinem Video erfahrbar.

Die Ausstellung ist Teil des jährlich in Bremen vergebenen Karin-Hollweg-Preises. Eine von der Hochschule für Künste zusammengestellte Jury wählt aus den Meisterschülern eines Jahrgangs, die gemeinsam in der Bremer Weserburg eine Ausstellung bestreiten, den Gewinner aus. Der Preis gehört mit 15.000 Euro zu den am höchsten dotierten Förderpreisen in Deutschland. Entsprechend begehrt ist er unter den Bewerbern. Die Summe schützt die Kunsthochschulabsolventen zumindest eine Weile vor dem Zwang der Erwerbsarbeit und ermöglicht es ihnen, sich auf ihre künstlerische Arbeit zu konzentrieren. Neben dem Preisgeld erhält der Gewinner die Möglichkeit, an einem renommierten Ort auszustellen. Müller hatte sich eine Ausstellung in der Kunsthalle gewünscht. „Dort würden neben dem einschlägig kunstinteressierten Publikum auch Sonntagsausflügler meine Arbeiten sehen“, hatte er letzten Sommer, nachdem er den Preis verliehen bekam, der taz erzählt.

Gewonnen hatte er damals mit einer mobilen Klangskulptur. „Weniger“ war der Titel der Arbeit, die er 2012 in Bremen in der Weserburg zeigte. Destruktiv war dies allerdings nicht. Vielmehr wurde hier ein Rettungsgedanken beschworen. Wie für einen unbekannten Ritus hatte er allerlei Gegenstände auf dem Boden kreisförmig angeordnet: einen Pinsel, Holzleisten, eine Fahrradlampe, eine leere Mineralwasserflasche aus Kunststoff, alte Fotografien und vieles mehr. Diese Gegenstände waren Fundstücke. Müller hatte sie gesammelt und aufbewahrt. Indem er sie für seine Installation ausgewählt hatte, richtete er die Aufmerksamkeit auf sie. Indem er sie in die symbolbeladene Form des Kreises brachte, lud er sie mit Bedeutung auf. Ein Zeiger kreiste über ihnen und zog einen Kohlestab über sie hinweg. Er streifte sie und erzeugte so einen sanften leisen Klang. Gleichzeitig zeichnete er sie, so wie die in Asche getauchten Finger des Priesters die Stirn der Besucher der Aschermittwochsmesse.

Müllers Werk ist reich an kunsthistorischen Bezügen. Man denkt an die heute so genannten Spurensicherer der 70er-Jahre. Künstler wie Nikolaus Lang und Christian Boltanski sammelten persönliche Gegenstände Verstorbener oder ihre Fotografien, bewahrten sie vor dem Vergessen und präsentierten sie wie Reliquien oder Ikonen.

Mit John Cage hat Müller einen der prominentesten Soundkünstler zum Nachbarn. Direkt neben Müllers Klanginstallationen befindet sich Cages raumfüllende Arbeit „Writing through the Essay On the Duty of Civil Disobedience“, entstanden in den Jahren 1985–91. 36 Lautsprecher und 24 Lampen hängen von der Decke der lichtdurchfluteten oberen Etage der Kunsthalle. Auf dem Boden stehen sechs unterschiedliche Stühle. Es ist wie eine Art Klanggarten: Aus jedem Lautsprecher ertönt ein anderer Sound. Man hört Alltagsgeräusche und Stimmengemurmel. Ein mächtiger Nachbar. Aber ein passender. Denn von einer solchen Polyphonie ist auch der Raum von Janis E. Müller erfüllt.

So etwa die Hauptarbeit der Ausstellung „Himmel und Hölle“. An einer quer durch den Raum gespannten Leine hängen 15 Teelöffel in einer Reihe. Die Löffel scheinen eine Art Yoga-Figur nachzumachen. Sie legen sich hin, schleifen der Länge nach über den Boden, beugen sich hoch, erheben sich und steigen in die Luft. „Sie legen sich zum Sterben hin und stehen wieder auf“, sagt Müller. Jedes Mal, wenn sie mit ihren Stielenden den Boden berühren, geben sie klirrende Geräusche von sich, dann schleifen sie in ihrer ganzen Länge darüber. Die Leine, an der die Löffel befestigt sind, wird von Holzlatten, die wiederum an Rundmotoren montiert sind, gesenkt und gehoben. Man denkt bei Aufbauten wie diese an ein Landschaftsbild, eine Berglandschaft mit Strommasten oder einen Skilift.

Besonders der Einfluss der Fluxus-Bewegung, mit der Cage zeitweise lose assoziiert war, ist hier deutlich sichtbar. Zum Beispiel „Fahrrad für Konzert mit Fahrrad und Gitarren“. Müller hat an ein altes Kinderfahrrad ein Rudel kaputter Gitarren angebunden. Tatsächlich erinnert es an Joseph Beuys Rudel, „The Pack“. Beuys hatte den VW-Bus seines Galeristen René Block mit mehreren Holzschlitten gefüllt, die hinten herausströmten. An jeden Schlitten waren eine Filzdecke, Fett und eine Taschenlampe geschnallt. Block hatte mit seinem Bulli in den 60er-Jahren Kunstwerke heute berühmter Künstler wie Sigmar Polke oder Gerhard Richter in die von den Deutschen zerstörte Stadt Lidice in der Tschechoslowakei gebracht.

Oder „Duo for Violine“. Hier hat Müller eine Geige auf dem Boden platziert. Zwei Metallraspeln spielen sie im Duett. Im Laufe der Ausstellung werden sie sich zunächst durch die Saiten, dann durch den hölzernen Korpus fressen. Danach wird der Motor abgestellt. Nam June Paik hatte einst während einer Performance auf der Straße an einer Schnur eine Geige hinter sich hergezogen. Paiks Geigenreste befinden sich in der Sammlung der Kunsthalle. Ob die Bremer Kunsthalle wohl Müllers durchgesägte Violine für ihre Sammlung ankaufen wird? Es wäre immerhin konsequent.

■ bis 2. März 2014, Kunsthalle Bremen