Nicht mehr können

DEMENZ Die Journalistin Nadine Ahr erzählt in „Das Versprechen“ die Geschichte ihrer Großeltern, die sich schon vor der Zeit trennen mussten

Er begreift: Er hat sein „Mädchen“ verloren, lange bevor ihr Herz zu schlagen aufhört

Wie wird es ausgehen, dieses Leben? Wie enden? Werden wir allein sein? Gehen wir gemeinsam, nach einer langen Zeit? Holt uns der Tod im Schlaf oder dämmern wir unter dem Piepen der Geräte langsam hinüber? Werden wir Schmerzen haben? Hält jemand unsere Hand? Das Nichtwissen, Nichtwissenkönnen ist das Beunruhigende hinter all diesen Fragen. Man kann sich eine Menge Gedanken machen, wenn es um das Sterben geht. Man kann gar neugierig darauf sein, auch vorsorgend. Letzte Ausfahrt, finaler Abgang, Ende. Doch letztlich, das zeigt Nadine Ahrs Geschichte „Das Versprechen“, kennt der Tod keine Planung.

In ihrem bei Droemer erschienenen Buch erzählt die Journalistin die Geschichte ihrer Großeltern. Die beiden hatten sich als junge Leute verliebt, in der Nachkriegszeit verloren, Jahrzehnte später wiedergefunden, um sich schließlich für den Rest ihres Lebens aneinander festzuhalten. Eine große Liebe. Einfache Leute, die viel hinter sich hatten. Und die sich das Versprechen gegeben haben, einander bis zum Schluss – bis zum Tod – nicht mehr allein zu lassen. Ein Versprechen, das sie nicht einlösen werden.

Denn Ria wird in ihrem letzten Lebensstück dement. Und diese Krankheit ist stärker als jeder Schwur. Edwin, der Beschützende in der Beziehung, muss erkennen, dass seine Frau nicht nur ein bisschen vergesslich wird. Nein, die sanfte Ria wird feindselig. Sie beginnt sich zu fürchten vor jenem Mann, der sie doch immer noch liebt. Sie hat Erscheinungen von fremden Frauen, die auf Edwins Schoß sitzen. Mal beschimpft sie ihn, mal erkennt sie ihn nicht. Es muss Zeit vergehen, bis Edwin begreift: Er hat sein „Mädchen“ verloren, lange bevor ihr Herz zu schlagen aufhört.

Nadine Ahr erzählt diese Geschichte ihrer Großeltern glasklar und tieftraurig. Sie schildert, wie aus einem Paar verzweifelte Gegner werden. Und Verlierer, beide. Und wie sie das als Enkeltochter erlebt und dabei erkennt, dass sie nichts tun kann, außer da zu sein, wenn diese beiden Erwachsenen ihre Liebe zu einem Ende bringen. Ihre Beziehung zu Ria und Edwin – man spürt es beim Lesen – ist eher die einer Tochter denn die der Enkelin. Das Scheidungskind Nadine erlebt noch einmal, wie die beiden Menschen, die mehr als ihre eigenen Eltern für sie da waren, sich trennen. Auf sehr persönliche Weise schreibt sie darüber.

Edwin beteiligt seine Enkelin: an seinen Gefühlen, an seiner Suche nach Lösungen, letztlich an seiner Entscheidung, Ria zu verlassen. Nadine, die Dreißigjährige, soll ihm Rat geben. „Es spielt keine Rolle, wie sehr ich an Vergangenem festhalten will, es funktioniert nicht“, schreibt sie über ihren Kummer. „Mein Kopf hat das alles längst begriffen. Der Kopf ist nicht mein Problem. Es ist das Herz.“

Edwin versucht, für sich und seine Frau eine Lösung zu finden. Er sorgt dafür, dass sein „Mädchen“ die gemeinsame Wohnung verlässt und in ein Pflegeheim zieht. Aber er fühlt sich schuldig, er hat das Versprechen, bis zum Schluss füreinander da zu sein, gebrochen. Und so folgt er ihr ebenfalls in das Heim. Aber die räumliche Nähe zu Ria ergibt keine seelische mehr. Edwin wird schwermütig zwischen den dämmernden Alten seiner eigenen Generation. Und Ria? Erkennt ihn nicht mehr. Er verlässt sie erneut und zieht um in ein Seniorenstift, wo es Lebensqualität gibt. Dort trägt er an seiner Schuld, bis zuletzt.

„Das Versprechen“ ist eine Geschichte, die so oder ähnlich hunderttausendfach passiert. 1,4 Millionen Menschen leben in Deutschland mit Demenz. Es ist eine Zahl, die nichts darüber sagt, wie traurig auch die Angehörigen dieser Menschen sind. Weil sie sich vor der Zeit verabschieden müssen von jenen, die sie kannten. All das passiert hinter Wohnungstüren, in Pflegeheimen. Nadine Ahr öffnet ihre Tür. Dahinter: viel Trauer, viel Erkenntnis. Man muss das aushalten können. ANJA MAIER

■ Nadine Ahr: „Das Versprechen. Eine Geschichte von Liebe und Vergessen“. Droemer Verlag, München 2013, 192 Seiten, 16,99 Euro