Schiebermaxe und seine Mitzi

TANZ Marion Kiesow erzählt in ihrem Buch „Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus“ über hundert Jahre Geschichte an einem einmaligen Ort. Manchmal etwas hemdsärmelig, aber passend zum Sujet

VON SUSANNE MESSMER

Dieses Buch ist wie einer dieser bunt beklebten Koffer, wo über die Jahre wahllos hineinkommt, was in Sachen Erinnerungstechnik irgendwie zu bedeutend erscheint, als dass es in den Papierkorb könnte. Alte Fotos, Postkarten und Briefe stapeln sich wild, beschriebene Bierdeckel, Eintrittskarten, alte Kalender, Notizbücher.

Nicht, dass der Hang zum Sammelsurium diesem Buch irgendwie Abbruch tun würde. Im Gegenteil. Es ist, als wäre Marion Kiesows Buch „Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus“ seinem Thema auf den Leib geschneidert. Denn es geht, auf stolzen 416 Seiten, um Berlins schönstes und wildestes Ballhaus, das zu kaiserlichen Zeiten eines von 900 war und heute mit dem Ballhaus Mitte und dem Ballhaus Berlin in der Chausseestraße eines der letzten seiner Art ist. Clärchens Ballhaus ist bis heute einer der wenigen Orte in Berlin, wo sich Jung und Alt treffen, aber auch Arm und Reich, wo sich „Forstarbeiter, Museumsdirektor, Baggerfahrer, Vermögensberaterin, Erzieherin und Verkäuferin einen Tisch teilen“, wie Marion Kiesow, die unermüdliche Schatzgräberin in Sachen Ballhaus, notiert. Clärchens Ballhaus, schreibt Marion Kiesow, ist eine andere Welt, und das war es schon bei seiner Eröffnung am 13. September 1913. Allein diese Geschichte zu erzählen, ist eines der größten Verdienste dieses Buchs: Schon damals tanzten hier „feine Herrschaften“, so Kiesow, aber auch der „Schiebermaxe – wenn nicht Zuhälter, so doch Gauner – mit seiner Mitzi“. Clärchens Ballhaus war schon damals eine Oase für all jene, die aus Büro und Fabrik kamen, „die für ein paar Stunden ihrem Elend und Alltag entfliehen wollten“. Walter Kollos Schlager wurden aufgedreht, das Bier floss in Strömen, und es wurde getanzt, getanzt und getanzt.

Nach den Kapiteln über die Zwangspausen während des Ersten und Zweiten Weltkriegs sind es vor allem jene über die sechziger und siebziger Jahre, die an Marion Kiesows Buch besonders in den Bann schlagen. Clara Habermann, die Namensgeberin, die den Laden nach dem Tod ihres Gatten und Gründers Fritz Bühler im Jahr 1929 mit harter Hand geführt hatte, war alt geworden. Sie übertrug 1963 die Geschäfte an ihre Stieftochter Elfriede Wolff, einen neuen Typus Frau, der nicht weniger hart arbeitete als die Alten, aber die Ausschweifung nicht nur als Geschäftsmodell zu betrachten schien.

Besonders in den siebziger Jahren entwickelte sich Clärchens Ballhaus zu einem der seltenen Orte in Ostberlin, wo Ossis und Wessis zusammen feierten, und zwar, wie Marion Kiesow sehr schön zeigt, unter schärfster Beobachtung der Stasi. Es gab Ostberlinerinnen, die sogenannte Strumpfhosenverhältnisse mit häufig verheirateten Westberlinern eingingen – Hauptsache, die brachten die richtigen Geschenke mit.

Es gab aber auch professionelle, wenn auch nicht allzu offensichtliche Prostitution. Die Damen fanden ihre Freier unter den amüsierwilligen Wessis, aber auch unter den Angehörigen der NVA – das Ballhaus hatte wie wenige andere eine NVA-Zulassung. Kiesow hat tatsächlich einen Bericht der Stasi ausgegraben, in dem eine Dame um die 23 ausgespäht wird: „Sie trinkt sehr viel und sucht Männerbekanntschaften, besonders Angehörige der Armee, sie ist nicht anspruchsvoll. Denn sie geht auch für 10 Mark vor dem Ballhaus mit, um dort den Geschlechtsverkehr durchzuführen.“ Woher der Herr Stasioffizier das wohl so genau wusste?

Zugegeben: Es gibt Passagen in Marion Kiesows Buch, da hätte man sich ein strengeres Redigat gewünscht: Wenn es zum Beispiel um die Trümmerfrauen geht oder das neue Frauenbild der DDR, dann sind dies manchmal Seitenstänge, die nicht viel mehr erzählen als Wikipedia. Aber dann blättert man weiter und befindet sich mitten im grandiosen Interview mit Sigrid Paulisch, die seit 1952 bei Clärchen tanzen geht.

Oder im Porträt der Familie Schmidtke, den Seelen des Ballhauses: Marion Kieswos Buch liefert raffiniert montierte Anekdoten und Bilder – und all das wirkt so hemdsärmelig, so vital und ausgelassen wie Clärchens Ballhaus selbst. Jeder, der auch nur einmal dort gewesen ist, wird viele Geschichten finden, die ihm gefallen – mehr jedenfalls als in jeder sauber durcherzählten kulturwissenschaftlichen Abhandlung, die Clärchens Ballhaus womöglich ebenfalls verdient hätte.

Selbst, als es um den Erfolg des Ballhauses seit der Übernahme durch die neuen Pächter Davis Regehr und Christian Schulz im Jahr 2005 geht, liefert Marion Kiesow lieber Anschauliches als Analyse – und liegt auch damit gar nicht falsch. Hier wird nicht versucht zu erklären, was an Clärchens Ballhaus heute so exotisch wirkt in Berlins neuer Mitte, sondern es geht schlicht und ergreifend um den ersten Abend des heutigen Haus-DJs. Heide Rabe alias DJane Clärchen hatte damals mit Partyvolk gerechnet, stattdessen kamen ältere Damen in Glitzerblusen. Schlager hatte sie kaum welche dabei. Also legte sie voller Panik Boney M. und Jennifer Lopez auf. Die Damen tanzten. Es funktionierte. Und es funktioniert noch immer.

■ Marion Kiesow: „Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus“. Nicolai Verlag, 33 Euro