Der Kahle, das bin ich

ESSAY Die Philosophin Michela Marzano artikuliert Unbehagen an den gegenwärtigen Körperpraktiken und Körpertheorien

Das Spannende am Körper ist, dass er eine Dreieinigkeit ist: Er ist die biologische Basis des Menschen, er ist ein gesellschaftliches Konstrukt, und sein jeweiliges Leben und Erlebtwerden hängt von der psychosozialen Geschichte der Individuen ab. Letzteres weiß die Autorin der jetzt auf Deutsch vorliegenden „Philosophie des Körpers“ sehr genau: die in Paris lebende Italienerin litt in ihrer Jugend an Anorexie. Nicht nur ihr Leibkörper, auch der Sprachkörper ihrer Gedanken scheint für sie nicht unproblematisch zu sein: Michela Marzano schreibt ihre Bücher nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Französisch.

Der Körper, seit einiger Zeit fast so etwas wie ein Modethe- ma in den Kulturwissenschaften, kann aus sehr verschiedenen Blickwinkeln heraus anvisiert werden. Immensen Einfluss hatte in den letzten Jahrzehnten die Foucault’sche Perspektivierung des Körpers als Gegenstand von Normalisierung und Disziplinierung. Die eher konservative Marzano interessiert sich nur am Rande für solche Zusammenhänge von Macht und Körper.

Ihr Ansatz ist phänomenologisch. Unter Bezug auf Maurice Merleau-Ponty geht sie von der sicherlich richtigen Beobachtung aus, dass zur Körpererfahrung eine Ambiguität gehört: Man weiß nicht so genau, ob man seinen Körper hat oder ob man er ist. In manchen Momenten hat man ihn eher, wenn man etwa vor dem Spiegel sich darüber ärgert, dass die Schädelhaut, unbekümmert um das eigene Schönheitsideal, das ohnehin schütter gewordene Haar weiterhin einfach ausfallen lässt. Fast im selben Moment ist man aber auch sein Körper; ganz elend angesichts der hingeschwundenen Haarpracht stöhnt man: Dieser kahler werdende Kerl, der da blass aus dem Spiegel starrt, das also bin ich. Aber auch euphorisch ist man hin und wieder sein Körper: wenn in den Feierstunden des Paarlebens prickelnde Erregtheit den Körper entflammt, steht außer Frage, dass diese Lustmembrane, die da mit einer anderen Lustmembrane Haut an Haut liegt, ich bin.

Ein zentrales Anliegen von Marzanos Buch ist es zu zeigen, dass viele der gegenwärtigen Körperpraktiken und Körpertheorien dieser Ambiguität des eigenen Körpers, gleichzeitig Objekt, zu dem man auf Distanz gehen und das man instrumentell benutzen kann (der Dichter Jean-Paul hatte einmal den Körper als „Ich-Besteck“ bezeichnet), und Subjekt, das die eigene Existenz konstituiert, zu sein, nicht gerecht werden. Schon in früheren Publikationen hatte sich die „angewandte Ethikerin“, wie sie sich selbst definiert, in ähnlicher Intention mit Pornografie beschäftigt und die Frage gestellt, ob Pornodarsteller nicht als Schauspieler in der Nacktheit ihrer ausgestellten Körper untergehen.

Der Überblick, den sie jetzt über die Philosophiegeschichte des Körpers gibt, will zeigen, dass gegenwärtige Körperpraktiken unreflektiert weiterführen, was im philosophiegeschichtlichen Diskurs längst zu den Akten gelegt ist. Die Queer-Bewegungen, für die die Geschlechterdifferenz eine subversiv zu dekonstruierende „Markierung“ ist, die Cyborg-Fantasien von Dona Haraway oder die Performance-Auftritte der Carnal-Art-Künstlerin Orlan, bei denen diese sich chirurgischen Eingriffen unterzieht, um dann als „reinkarnierte Orlan“ die Bühne zu verlassen, bedeuten für sie das Fortleben der dualistischen Körper-Seele-Philosophie. Wie bei Platon, so polemisiert sie, werde der eigene Körper immer noch als Hindernis erfahren, nun aber nicht mehr als Hindernis zur Erkenntnis der wahren Ideen, sondern zur absoluten Freiheit.

Für die Autorin bedroht das Zusammenspiel von dem, was sie als „liberalistisch-individualistisches“ Denken empfindet, und moderner Medizintechnologie die „natürliche Wahrheit des Körpers“. Wenn sie beispielsweise die (sehr seltenen) Fälle von Gesichtstransplantationen diskutiert, scheint ihr die Dialektik von Alterität und Intimität, die zur Körperlichkeit gehört, vor unentwirrbare Probleme gestellt.

Es charakterisiert den eingängigen Stil des Buches, aber mehr noch dessen konservativen Gestus, wenn die Autorin den Körper nicht als Möglichkeit zur Entgrenzung, sondern als das, was „uns an die Wirklichkeit ‚nagelt‘“, definiert. CHRISTOF FORDERER

■ Michela Marzano: „Philosophie des Körpers“. Diederichs Verlag, München 2013, 144 Seiten, 14,99 Euro