Raumtemperatur 8 Grad, Luftfeuchtigkeit 35 Prozent

FILMERBE Die Digitalisierung des Filmerbes wird allenthalben gefordert. Soll sie der Schlüssel zur Bewahrung der Bestände sein und nicht purer Aktionismus, bedarf es einer Langzeitstrategie: Was nötig ist, damit uns die Filme in den Archiven dauerhaft erhalten bleiben

Mit dem Bekenntnis im Koalitionsvertrag wird das Filmarchiv endlich politisch

VON ANDREAS BUSCHE

Auf der kommenden Berlinale wird Robert Wienes expressionistischer Horrorfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“ erstmals in einer digital restaurierten Fassung aufgeführt. Die internationale Archiv-Community darf sich zu Recht damit rühmen, in einer konzertierten Anstrengung einen bedeutenden Klassiker der Filmgeschichte wieder zu jenem Glanz verholfen zu haben, dem er seine Reputation ursprünglich verdankt. Hochwertige Restaurierungen, wie sie regelmäßig auf der Berlinale, aber auch auf den Archivfestivals in Bologna und Pordenone zu sehen sind, haben zu einer Neubewertung der Stummfilmära beigetragen. Interessant war vor diesem Hintergrund eine Aussage von Ernst Szebedits aus dem Vorstand der Murnau-Stiftung, die bei der „Caligari“-Restaurierung federführend war: Er sagte, dass die Berlinale-Premiere eines Stummfilmklassikers die Digitalisierung des Filmerbes in den öffentlichen Fokus rückt. „Was heute nicht verfügbar gemacht wird, droht im digitalen Medienzeitalter von der Bildfläche zu verschwinden.“

Nun ist „Das Cabinet des Dr. Caligari“ kein bedrohtes Filmwerk. Im Gegenteil gehört er zu den besterschlossenen und bestdokumentierten Werken der Filmgeschichte – was eine Restaurierung unter Zuhilfenahme der besten Filmelemente fraglos rechtfertigt. Der Kampf um den Erhalt des Filmerbes wird derzeit an anderen Fronten ausgetragen. Ende letzten Jahres veröffentlichten der Filmemacher Helmut Herbst, der Filmhistoriker Jeanpaul Goergen und der Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier eine Petition, die ein dramatisches Bild vom Zustand des deutschen Filmerbes zeichnete und die neue Regierung in die Pflicht nahm, sich stärker für den Erhalt der Archive einzusetzen.

Glaubt man der Politik, ist ihr das deutsche Filmerbe schon lange eine Herzensangelegenheit. Es blieb jedoch bei Lippenbekenntnissen. Die schwarz-gelbe Regierung hatte sich im Koalitionspapier noch ein knappes Versprechen abgerungen: „Das nationale Filmerbe ist dauerhaft zu sichern.“ Entsprechend reserviert fiel in den vergangenen vier Jahren die Unterstützung des ehemaligen Kulturstaatsministers Bernd Neumann aus. Die stolz angekündigte „Digitalisierungsoffensive“ beinhaltete eine jährlich Fördersumme von einer Million Euro, verteilt auf die Mitglieder des Kinemathekenverbunds (zu dem unter anderem das Bundesfilmarchiv, die Stiftung Deutsche Kinemathek und das Deutsche Filminstitut gehören) und ist bis heute nicht einmal im Haushalt des BKM (Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien) verankert.

Digitalisierungsförderung

Der Gestaltungswille der schwarz-roten Regierung fällt da schon um einiges konkreter aus. Im Koalitionsvertrag werden dem Filmerbe vier Sätze gewidmet. Im Wortlaut: „Unser nationales Filmerbe muss dauerhaft gesichert und auch im digitalen Zeitalter sichtbar bleiben. Es bedarf hierfür neben einer Digitalisierungsförderung des Bundes auch der Beteiligung der Länder und der Filmwirtschaft. Die Stiftung Deutsche Kinemathek ist als eine der zentralen Einrichtungen zur Bewahrung und Zugänglichmachung des deutschen Filmerbes zu stärken. Die Koalition wird auch das Bundesarchiv personell und finanziell stärken.“

Damit ist die politische Zielsetzung für die nächsten Jahre grob umrissen. Doch der populistische Kampfbegriff der „Digitalisierung“, den auch Herbst, Goergen und Kreimeier in ihrer Petition geschickt lancieren, ist anfällig für Missverständnisse. Das Thema Digitalisierung beschäftigt die Politik – auch im europäischen Rahmen – nicht erst seit gestern. Mittlerweile entstand die virtuelle Bibliothek Europeana, in die Initiativen wie das European Film Gateway oder die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB) eingebunden sind. „Nutzung“ und „Zugang“ gehören zu den Modewörtern, die die EU in der vergangenen Dekade immer wieder beflügelten, mehr Geld für Digitalisierungsprojekte auszugeben. Dass im digitalen Zeitalter nicht alle Informationen in Echtzeit auf unseren Rechnern verfügbar sind, scheint in weiten Teilen der Politik als Skandal betrachtet zu werden. In diesem Irrglauben aber liegt die Crux der Forderung nach einer flächendeckenden Digitalisierung. Denn eine teure Digitalisierungswelle, wie sie auch in der „Petition Filmerbe“ gefordert wird, wäre ohne eine Langzeitstrategie sinnloser Aktionismus. Derzeit stellt aber gerade die Langzeiterhaltung von digitalen Daten die größte Herausforderung dar.

Das wertvolle Negativ

Die vier Sätze im Koalitionsvertrag sind immerhin ein Anfang. Korrekt interpretiert, stellen sie eine gute Grundlage für zukünftige Digitalisierungsbemühungen dar. Hier lohnt ein Blick nach Frankreich, wo dem Centre National de la Cinématographie (CNC) vor zwei Jahren 400 Millionen Euro für die Digitalisierung von 7.000 Langfilmen zur Verfügung gestellt wurden. Interessant ist vor allem der letzte Punkt der Vereinbarung: Nach der Digitalisierung und der Restaurierung muss die digitale Fassung zu konservatorischen Zwecken wieder auf Filmmaterial ausbelichtet werden. Denn in der Archivwelt ist unbestritten, dass eine photochemische Umkopierung bis auf Weiteres die sicherste Methode für den langfristigen Erhalt eines Filmwerks ist. Die digitale Fassung öffnet dem historischen Film, zunehmend auch im archivarischen Sektor, den Zugang zu neuen Verwertungsketten. Das Negativ und die Filmmaster bleiben aber auch im Archiv 3.0 das wertvollste Inventar.

Ökonomisch ist Lagerung des analogen Filmmaterials unter idealen klimatischen Bedingungen (Raumtemperatur 8 Grad, Luftfeuchtigkeit 35 Prozent) ohnehin die beste Lösung. Der Aufwand für eine lückenlose digitale Archivierung (Hardware plus Dienstleistung) übersteigt die Kosten der passiven Konservierung um ein Vielfaches, zumal öffentliche Fördermittel nicht auf die laufenden Kosten des Archivbetriebs angerechnet werden können. Und ein Filmarchiv, das in einem Rechenzentrum liegt, sich aber irgendwann nicht mehr die notwendige Datenumwandlung leisten kann, ist eine noch traurigere Vorstellung als das verheerende Bild mit Wassereinbrüchen und Giftgasdämpfen, das der Filmkritiker Daniel Kothenschulte vergangenen November in der Tageszeitung Die Welt von den Schatzkammern des Bundesfilmarchivs zeichnete. Eine seriöse Initiative zum Erhalt des Filmerbes muss also einen nicht unbeträchtlichen Anteil zur strukturellen Stärkung der deutschen Filmarchive aufwenden. Die Pflege der digitalen Daten wird langfristig wahrscheinlich nicht mehr in den Händen von Filmarchivaren, sondern in der Verantwortung von IT-Dienstleistern liegen. Umso wichtiger ist es, diesen Übergang, der allenfalls technologisch, nicht aber methodisch einen Paradigmenwechsel bedeutet, so reibungslos wie möglich zu gestalten.

Doch zurück zum Koalitionspapier. Einige Ausführungen verdienen eine genauere Betrachtung. Der Reihe nach. „Unser nationales Filmerbe muss dauerhaft gesichert und auch im digitalen Zeitalter sichtbar bleiben.“ Die meisten Archive verfahren heute schon aus konservatorischen Erwägungen nach der Praxis „Digitalisierung on demand“. Das heißt, Filme kommen nur dann unter den Scanner, wenn sie wirklich benötigt werden. Aber selbst diese Kosten sind bislang durch öffentliche Mittel nur spärlich gedeckt. 20 Millionen, so eine inoffizielle Schätzung, werden jährlich benötigt, um die Nachfrage nach digitalem Archivmaterial in Deutschland zu bedienen. Als Grundlage der Schätzung dienen die 50.000 bis 80.000 Euro, die im französischen Programm für die Digitalisierung eines Spielfilms veranschlagt werden. Die Filmförderungsanstalt (FFA), die seit dem vergangenen Jahr ebenfalls 1 Million Euro für die Digitalisierung deutscher Filme bereitstellt, rechnet derzeit mit 15.000 Euro pro Titel. Solche Kalkulationen gehen zwangsläufig auf Kosten der Qualität.

Industrie muss mitziehen

Womit wir schon beim nächsten Punkt sind. „Es bedarf hierfür […] auch der Beteiligung der Länder und der Filmwirtschaft.“ Die reichlich geförderte deutsche Filmindustrie hat zum Thema „Filmerbe“ bislang geschwiegen. Dabei sind die Produktionsfirmen letztlich die Nutznießer eines „long tail“ der Verwertungskette, die durch die Konservierung der zunehmend digitalen Filmelemente überhaupt erst gewährleistet ist. Chris Wahl, der an der HFF Potsdam die Professur Filmerbe hält, betont, dass bei heutigen Filmproduktionen die Konservierung der Filme von Anfang an im Produktionsprozess mitbedacht und in der Finanzierung eingeplant werden müsse. Die großen Hollywood-Studios, die den Workflow von der digitalen Postproduktion bis zur Archivierung inzwischen optimiert haben, übernehmen hier eine Vorbildfunktion. „Die beteiligten Akteure“, so Wahl, „müssen ausdrücklich in die Verantwortung genommen werden. Diese Kosten dürfen nicht auf die öffentliche Hand abgewälzt werden.“ In Frankreich konnten Rechteinhaber und Produzenten durch das Angebot großzügiger Anleihen für die nationale Digitalisierungsinitiative gewonnen werden.

Zu guter Letzt: „Die Stiftung Deutsche Kinemathek ist als eine der zentralen Einrichtungen zur Bewahrung des deutschen Filmerbes zu stärken.“ Das ist eine interessante Variante, da sich das Bundesfilmarchiv in der Vergangenheit immer wieder als bürokratischer Tanker erwiesen hat, der Veränderungsprozesse eher verschleppt als beschleunigt. Die Integration eines nationalen Filmarchivs in ein traditionelles Aktenarchiv stellt ein strukturelles Problem dar, das kurzfristig wohl nicht gelöst werden kann. In dieselbe Kerbe schlägt auch die Forderung der Petition nach der Einrichtung einer zentralen Stelle, die zukünftige Digitalisierungsmaßnahmen koordiniert. Denn auch der deutsche Kinemathekenverbund ist ein ineffizientes Konstrukt, weil in diesem Kreis zu viele Eigeninteressen aufeinanderprallen. Immerhin hat man sich inzwischen auf die Erstellung eines gemeinsamen Bestandskatalogs geeinigt – nur das Bundesfilmarchiv beschreitet wieder mal eigene Wege.

Mit der Petition und dem Bekenntnis im Koalitionsvertrag ist die Situation der Filmarchive nach Jahren in der Obskurität endlich auf eine sichtbare politische Ebene gehoben. Die Personalie der neuen Kulturstaatsministerin Monika Grütters gibt zwar nicht unbedingt Anlass zur Hoffnung, sieht man sich ihren Auftritt im parlamentarischen Ausschuss zum Thema „Digitalisierung des Kulturerbes“ an. Aber Klaus Kreimeier versichert, dass die Unterzeichner der Petition weiter Lobbyarbeit für das Filmerbe betreiben werden. Es ist bereits ein großes Verdienst, dass die mahnenden Rufe einmal nicht aus den Reihen der Betroffenen kommen.