„Vergesst Harry Potter“

LITERATUR Vom Streben nach Unabhängigkeit zeugen die Memoiren des kenianischen Schriftstellers Binyavanga Wainaina und sie beleuchten postkoloniale Geschichte

So schreibt Binyavanga Wainaina von der demütigenden Begegnung mit einer Stewardess, der sein ugandischer Vorname auffällt

VON CARLA BAUM

Als Binyavanga Wainaina beschließt, eines Tages Bücher zu schreiben, ist er noch ein Junge. In Kenia regiert Präsident Moi noch am Anfang seiner 25-jährigen Amtszeit und lässt Wainaina doch schon spüren, was es bedeutet, nicht dem Stamm des Regierungsoberhauptes anzugehören. Wainaina und seine Schwester bekommen, obwohl sie Schulbeste sind, keinen Platz an weiterführenden Schulen, weil sie Gikuyu sind. Die besten Plätze bekommen die Kalenjin, denen auch Präsident Moi angehört. „Zum ersten Mal in meinem Leben rufe ich jemanden an, weil er, wie ich leidvoll erfahre, Gikuyu ist wie ich“, schreibt Wainaina.

Seine Erinnerungen an die Kindheit sind bildhaft und detailverliebt, lesen sich anfangs jedoch oft holprig, weil sie zu sehr durch das Auge und poetische Ausdrucksvermögen des erwachsenen Schriftstellers gefiltert scheinen. Flüssiger und spannender wird es, als Wainainas Erzähler-Ich älter wird und sich die autobiografischen Erinnerungen immer mehr mit politischen Ereignissen im postkolonialen Ost- und Südafrika vermischen. Wainaina geht zum Studium ins Südafrika der frühen 1990er Jahre. Als er selbst eine Lebenskrise hat und manchmal tagelang sein Apartment nicht verlässt, wird Nelson Mandela Präsident.

Wainaina versteht es dabei, den konkreten Geschehnissen gerecht zu werden und zugleich allgemeingültige Essenzen aus ihnen zu ziehen. So schreibt er von der demütigenden Begegnung mit einer Stewardess, der sein ugandischer Vorname – Wainainas Mutter ist Uganderin – auffällt und die nicht lockerlässt, nach seiner tatsächlichen Herkunft zu fragen. Ihr wiederholter Satz: „Woher kommt Ihr Name?“ wird unter dem Vorwand des Interesses zu einer distanzlosen Machtdemonstration.

Erfolg und Lakonie

So erzählt er einerseits vom durch politische Konflikte stärker befeuerten Tribalismus in Kenia zu Beginn des Jahrtausends. Andererseits vermittelt die anekdotenhaft beschriebene Begegnung auch einfach sein Gefühl, ein Fremder im eigenen Land zu sein. Seine Suche nach nationaler Identität ist ein Problem, das auch hierzulande vielen Deutschen mit Migrationshintergrund vertraut sein dürfte.

Wainainas eigener Werdegang nimmt stellenweise eine beiläufige Rolle ein in der Fülle der Ereignisse. „Ich gewinne den Caine Prize und weine bittere Rotztränen und reise mit etwas Geld in der Tasche nach Hause zurück“, schreibt Wainaina fast lakonisch über seinen Durchbruch als Schriftsteller. In Nairobi gründet er 2002 zusammen mit anderen Schriftstellern das Magazin Kwani? – was auf Sheng so viel heißt wie „Also was?“. Kwani? ist heute eines der einflussreichsten Literaturmagazine Afrikas und veröffentlicht nicht selten Kandidaten für den Caine Prize.

Es passt zu Wainaina, dass er angesichts des international angesehenen und hoch dotierten Preises nicht in überschwängliche Dankbarkeit und Erfolgsfreude verfällt. Er hält eine kritische Distanz zu westlichen Institutionen und dem internationalen Buchmarkt. Als er im Auftrag der EU eine Erzählung über den Krieg im Sudan anfertigt und darin vom „Südsudan“ als eigenem Staat spricht, mögen die Auftraggeber die Geschichte nicht mehr veröffentlichen – sie stimme nicht mit dem Sprachgebrauch der EU überein. Wainaina schreibt darüber provokant und amüsiert, sagt seinen Arbeitgebern „mit schicklichen Worten, dass sie sich verpissen sollen“. Er verzichtet auf die Entschädigungszahlung und bringt die Geschichte bei Kwani? heraus.

2007 sollte er den Young Global Leader Award des Weltwirtschaftsforums verliehen bekommen – und lehnte ab. Seine Begründung: Er sei ein Schriftsteller, kein Leader, und ziehe die Unabhängigkeit dem internationalen Erfolg vor. In einem jüngst erschienenen Artikel für The African Report appelliert er an die junge Generation kenianischer Schriftsteller: „Forget Harry Potter!“ Die jungen Kenianer sollten sich stattdessen der Möglichkeiten des Internets bewusst werden und sich von den Zwängen des englischsprachigen Buchmarktes befreien.

Die Memoiren zeugen von diesem zwanglosen, aber konsequenten Streben nach Unabhängigkeit. Sprache und Inhalt sind mitnichten dem Verständnis und der historischen Bildung westlicher LeserInnen angepasst. Tunlichst vermeidet Wainaina all jene Klischees, über die er sich 2005 in seinem satirischen Essay „How to write about Africa“ lustig machte – kulturalistische, kolonialistische und nostalgische Beschreibungen „der“ afrikanischen Landschaft, „des“ afrikanischen Geistes. Das bedeutet auch, dass das eine oder andere Fragezeichen beim Lesen nicht verschwindet.

Dafür findet man sich plötzlich mitten in einer Bar in Nairobi wieder, etwa wenn ein Kofferträger Wainaina auf die Frage, wen er 2007 wählen würde, bloß antwortet: „Wir wählen den, der uns einen ausgibt.“

■ Binyavanga Wainaina: „Eines Tages werde ich über diesen Ort schreiben. Erinnerungen“. Deutsch von Thomas Brückner. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2013. 320 Seiten, 24,80 Euro