Aus einem Land, das seine Vergangenheit vergaß

NACHRUF Der argentinische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Juan Gelman ist gestorben

Der argentinische Dichter Juan Gelman ist tot. Er starb am Dienstag im Alter von 83 Jahren in Mexiko-Stadt. Schriftsteller, Vater eines ermordeten Sohnes, Schwiegervater einer Verschwundenen, politischer Kämpfer für die Menschenrechte, Großvater einer wiedergefundenen Enkelin: All das vereint sich in seiner Person.

Liebe, Tod und die Erinnerungen an die Kindheit sind zentralen Themen seiner schriftstellerischen Arbeit. 1956 erschien sein Gedichtbanddebüt „Violín y otras cuestiones“. 1962 folgt Gotán , dann „Cólera Buey“ („Ochsenwut“, 1971). Auf Deutsch erschienen sind „Dibaxu Debajo Darunter“ und der Gedichtband „Spuren im Wasser“. Soziale und politische Themen tauchen verdichtet darin auf. 2007 wurde Gelman für sein Werk mit dem Cervantes-Preis ausgezeichnet, der höchsten literarischen Auszeichnung im spanischsprachigen Raum.

Zur Welt kam er 1930 in Buenos Aires als Sohn jüdischer Einwanderer aus der Ukraine. Er wächst im Viertel Villa Crespo in einem politisierten Elternhaus auf. Als junger Mann schloss sich Gelman den Kommunisten an, später dem bewaffneten Kampf der linksperonistischen Montoneros. 1975 musste er – vom Tod bedroht – aus Argentinien fliehen, ging zunächst nach Europa. Seit 1990 lebte er in Mexiko. Bereits 1979 trennte er sich von den Montoneros. Als die Militärs 1983 die Macht in Argentinien abgeben mussten, blieb Gelman von der Amnestie ausgenommen, die für Machthaber und Guerilleros gleichermaßen galt. Erst 1989 wurde er begnadigt. „Der Geist eines Landes, das seine Vergangenheit vergisst, kann seinen Horizont nicht erweitern“, sagte er einmal.

Gelman suchte zeitlebens vergeblich nach seiner Schwiegertochter. Die hochschwangere 19-Jährige war 1976 gemeinsam mit ihrem 20-jährigen Ehemann, dem Sohn des Dichters, entführt worden. Während Marcelo Ariel Gelman ermordet wurde, wurde María Claudia ins uruguayische Montevideo verschleppt. Ihr Kind wurde kurz nach der Geburt an ein kinderloses Ehepaar übergeben. María Claudia ist bis heute verschwunden. Im Frühjahr 2000 konnte Juan Gelman wenigstens seine Enkelin in Montevideo ausfindig machen. 2012 erkannte Uruguay seine Verantwortung für das Verschwinden der Schwiegertochter an. Gelman musste bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen, damit Uruguay zum öffentlichen Schuldeingeständnis verurteilt wurde. JÜRGEN VOGT