„Die Hemmschwellen sind weg“

MEXIKO Der Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II über Gewalt und die Vorzüge der Fiktion

■ Geboren 1949 in Gijon (Spanien), Auswanderung nach Mexiko 1957. Begründer des neuen lateinamerikanischen Kriminalromans, etwa „Vier Hände“ (auf Deutsch 2004). Wurde als Historiker 1995 international bekannt, als er belegte, dass Che Guevara 1965 an der Spitze eines afrokubanischen Befreiungsheeres im Kongo kämpfte („Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren“). Taibo lebt in Mexiko-Stadt.

■ Bei den Literaturtagen Mittelamerika in Frankfurt am Main liest Taibo am 24. Januar aus seinem Werk. Am 25. Januar nimmt er an einem Werkstattgespräch teil.

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INTERVIEW KNUT HENKEL

taz: Herr Taibo II, als Historiker und Krimiautor kennen Sie sich aus mit Gewalt. Sprengt die Brutalität der Drogenkartelle nicht alles, womit es ihr melancholischer Detektiv Hector Belascoarán bisher zu tun hatte?

Pablo Ignacio Taibo II: Ja leider, ich würde es bevorzugen, wenn Héctor Belascoarán nichts zu tun hätte. Aber die Realität in Mexiko sieht anders aus. Es gibt keine Hemmschwelle mehr. Alles ist möglich, Brutalität und Skrupellosigkeit sind beispiellos, und jeden Tag wird man von den Medien aufs Neue mit unglaublichen Formen der Gewalt konfrontiert. Das ist auch der Grund, weshalb in Michoacán die „Autodefensas“ (Bürgerwehren) durch die Straßen der Ortschaften marschieren und Einwohner ihnen applaudieren. Das ist wie ein Selbstreinigungsprozess angesichts der Untätigkeit der korrupten Polizei – eine bittere Medizin zur psychischen Gesundung.

Sie sind auf Einladung der „Literaturtage Mittelamerika“ in Frankfurt am Main zu Gast. Wie denken Sie über die literarische Entwicklung Ihrer Region?

Ich habe die Einladung zwar akzeptiert, aber eigentlich nicht verdient, denn Mexiko gehört nun einmal nicht zu Mittelamerika. Aber abseits dieses geografischen Fehlers pflege ich natürlich einen Austausch mit Autoren aus Panama, Costa Rica und der Karibik. Ich war just in den letzten Monaten auf den Buchmessen von Panama-Stadt und San José, wo ich die Biografie von Pancho Villa und meine Krimis vorgestellt habe.

Haben Sie neue Kollegen entdeckt?

Ja, es gibt immer etwas Neues. Gemeinsam mit Sergio Ramírez (Nicaragua) gehöre ich nach wie vor zu den zeitgenössischen Autoren. Wir werden nicht unbedingt einer anderen Generation zugeschlagen, der Leser entscheidet da oft anders als die Kritiker. Beide interessieren wir uns für die „Crónica“, ein Genre, welches der europäischen Reportage am nächsten kommt, aber eben auch für den Kriminalroman und die Geschichte unseres Landes.

Die wird von vielen Autoren jedoch erst im ausländischen Exil angepackt.

Richtig, dies ist eine direkte Folge der Migration. Viele Guatemalteken haben erst in den USA angefangen ihre Geschichte niederzuschreiben, allerdings aus der Perspektive von Migranten, nicht der von Guatemalteken. Aber noch einmal: Es ist nicht einfach, Lateinamerika zu generalisieren, es gibt regionale Besonderheiten. Generell stimmt, dass nach dem Boom um Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa, Eduardo Galeano oder Mario Benedetti zahlreiche Brücken nach Europa abgebrochen wurden. Ich hatte Glück, denn meine Beziehungen zu Verlagen sind stabil, aber erst mit dem Erfolg Roberto Bolaños wurden die Brücken wieder kürzer.

Es gab also einen Bruch, der Stellenwert lateinamerikanische Literatur wurde geringer?

Exakt. Natürlich gibt es auch in der Literatur Moden, so dass die Perspektiven sich veränderten, und parallel veränderte sich auch die Literatur. Die experimentierfreudige Boomgeneration wurde abgelöst von einer, die sich mehr mit Themen beschäftigt als mit literarischen Formen. Wir sind eine Generation von Geschichtenerzählern, nicht von literarischen Rebellen, die mit ihren Vätern brechen müssen, um Neues zu erfinden. Wir lieben den Schriftsteller Rodolfo Walsh, der die Wirklichkeit der argentinischen Diktatur beschrieb. Wir beschreiben, was zwischen Los Angeles und Patagonien passiert, und bedienen uns auch des Krimis, um das Geschehen zu verarbeiten.

Sind Migration, Drogenhandel und Korruption heute die zentralen Themen?

Ja, aber es gibt von allem etwas. Dabei ist der Krimi zu einem Werkzeug geworden, mit dem sich die dunklen Flecken der Gegenwart ausleuchten lassen. Die Fiktion gibt uns Freiräume, das auszusprechen, was sonst riskant wäre. Der Krimi hat Erfolg auf dem ganzen Kontinent und ist meist solide recherchiert.

Aber der Krimi muss nichts beweisen.

Das ist sein Vorteil. Im Journalismus müsste ich beweisen, im Krimi kann ich fundierte Vermutungen streuen, die sich im Nachhinein manchmal als richtig erweisen.

Gibt es auch eine neue Generation, die den Spuren des Detektivs Héctor Belascoarán folgt?

Ja, es gibt eine ganze Reihe neuer Autoren. Die kommen wie José Reveles aus dem Journalismus, bedienen sich wie Fabrizio Mejía oder Bernardo Fernández aber auch mehr und mehr der Fiktion. Sie gehören zur 68er Generation. Was haben Sie und Ihre Altersgenossen, die das Massaker von Tlatelolco vom 2. Oktober 1968 hautnah erlebten, als hunderte Studenten massakriert wurden, bewirkt?

Wir haben erreicht, dass der Bevölkerung dämmerte, wie sich die PRI (die langjährige Regierungspartei) auf ein Netzwerk der Korruption stützte. Ganz langsam ist die mexikanische Mittelschicht wach geworden, hat begonnen zu realisieren, in was für einem Land sie lebt.

Gleichwohl steht es nicht gut um die mexikanische Linke, warum?

Das sehe ich anders. Die mexikanische Linke hat drei Wahlen gewonnen und wurde dreimal um den Wahlsieg betrogen. Dabei sorgt die nicht vorhandene Unabhängigkeit der Justiz dafür, dass so ein Wahlbetrug ungesühnt bleibt. Parteien und Richter stecken unter einer Decke. Gleichwohl ist die Linke gewachsen ist und hat viel versucht.

So wie die Initiative Morena, die tausende Stimmen gegen die Energiereform der PRI-Regierung von Staatspräsident Enrique Peñalosa sammelte?

Genau, die Initiative Morena wendete sich gegen den potenziellen Ausverkauf der Erdölressourcen des Landes und hat in kürzester Zeit mehr als eine Million Menschen mobilisiert. Wo sonst auf der Welt gibt das? Nennen Sie mir ein Beispiel in Deutschland! Das Problem ist, dass wir in Mexiko einem perfekten System von Korruption und Gewalt gegenüberstehen.