Das Epos kann beginnen

SEHR NORDISCH Es geht um Schönheit. Aber nur ironisch gerahmt. Die isländischen Künstler Ragnar Kjartansson und Kjartan Sveinsson machen in der Volksbühne Berlin einen Ausflug ins 19. Jahrhundert

So ungefähr dreißig Jahre ist es her, da sah ich in Berlin, auf dem sehr alternativen Gelände der Ufa-Fabrik, einen bezaubernden Laterna-magica-Abend. Einige Engländer tourten mit den alten Glasbildern von romantischen Landschaften und spielten schrullige Musik zu dieser Vorgeschichte von Fotografie und Film. Und für alle, die damals zuschauten, führte der Abend in eine Vergangenheit, der am ehesten noch die Großeltern angehört hatten.

Das lief unter Kleinkunst. Der Großkunst jedoch gehört jetzt ein visuell ähnliches und doch unter ganz andere konzeptuelle Vorzeichen gestelltes Projekt der beiden isländischen Künstler Kjartan Sveinsson und Ragnar Kjartansson, das in der Volksbühne Berlin uraufgeführt wurde. Mit seinen höchst romantisch gestalteten Bühnenbildern von verschneiten Wäldern, einsamen Meeresufern und hoch in den Bergen gelegenen Höhlen erinnerte es durchaus an die populären Laterna-magica-Bilder des 19. Jahrhunderts. Und auch die beiden isländischen Künstler, die sich zum Schlussapplaus zusammen mit dem Dirigenten David Thór Jónsson in übertriebene Verbeugungen warfen, hätten mit ihren Bärten und Anzügen dem Gemälde einer ehrsamen Künstlervereinigung von 1850 entsprungen sein können.

David Thór Jónsson hatte zuvor 70 Minuten lang das Filmorchester Babelsberg dirigiert, das mit ungeheuer vielen Streichinstrumenten, mit Windmaschine und Donnerblech den Orchestergraben füllte. Die Komposition mit dem passend pompösen Titel „Der Klang der Offenbarung des Göttlichen“ wogte dazu wie die Wellen, dräute wie die Nebel, verdunkelte sich wie das Bühnenlicht und schwankte erhaben durch Berg und Tal. Sie führte gefühlsmäßig durch eindeutig vorindustrielle Landschaften, manchmal gar getragen wie eine mittelalterliche Messe. Dazu sang ein Chor schön und manchmal engelsgleich, wenn auch im Wortlaut kaum verständlich. Ungefähr so was wie „all mein Herrschen die Schönheit will“.

Schauspieler gab es keine. Das ist in einem Theater immerhin bemerkenswert. Womöglich kann es, während das Kunstprojekt läuft, auf Gastspielreise gehen. Trotzdem kam es zu tragischen Stellen – etwa: wenn in einsamer Berglandschaft eine Hütte abbrannte – und viele Momente wirkten wie das Vorspiel zu einem großen Mythos. Das Schlussbild etwa – der Blick fällt aus einer Höhle über Berggipfel, die sich im langsam erstarkenden Sonnenaufgangslicht abzeichnen – erinnert an die Momente im Fantasy-Film, wenn die schon müden Helden für einen friedlichen Moment bei guten Geistern zusammenkommen, wissend aber, dass sie bald in ihre letzte Schlacht ziehen müssen. Solchen Projektionen standen hier Tür und Tor sperrangelweit offen.

Schwülstig und minimalistisch, kunstgläubig und ironisch, dem Genie huldigend und die bürgerliche Kunstinstitutionen karikierend – das alles widerspricht sich und doch ist „Der Klang der Offenbarung des Göttlichen“ das alles zugleich. Der Komponist Kjartan Sveinsson, bekannt geworden als Keyboarder der isländischen Sphärenmusiker Sigur Rós, und Ragnar Kjartansson, Performance- und bildender Künstler, der die sieben nordischen Bühnenmaler leitete, träumen zusammen noch einmal den Traum vom Gesamtkunstwerk, wohlwissend um dessen Verfallsgeschichte.

Ein bisschen mehr Futter für das Hirn hätte es neben all dieser flüchtig verdampfenden Schönheit aber schon geben können. Warum sind die Autoren so fasziniert vom Künstlerbild des 19. Jahrhunderts? Wo sehen sie dessen Daumenabdruck in der Gegenwart? Warum muss das alles so groß sein? Mit solchen Gedanken blieb man allein.

KATRIN BETTINA MÜLLER